Alle Farben des Schnees
regelmäßiger
Stunden hat. Aber heute sitzt eine neue, erwachsene Schülerin neben Oscar am Klavier. Eine Anfängerin. Vielleicht 10 Jahre jünger als ich.Vielleicht hatte sie zwei oder drei Stunden. Ich setze mich und höre und sehe, wie sie die ersten kleinen Stücke sofort spielt, die ich lange üben mußte. Er begleitet sie. Und sie spricht mit Oscar romanisch.
22. Oktober
Ich lese »Die Wende« von Cla Biert (1920-1981). Das Buch des Scuoler Schriftstellers und Lehrers erschien 1962 auf Romanisch (»La Müdada«), 1984 auf Deutsch. Es handelt von den Bergbauern im Unterengadin an der Schwelle des traditionellen ländlichen Lebens zur neuen Zeit der Landwirtschaftsmaschinen und des aufkommenden Tourismus. Im Zentrum steht ein begabter Bauernsohn, der sich entscheiden muß, ob er, in der Tradition der Randulins, in der Fremde sein Glück suchen oder in der Heimat bleiben und die Zeit des Umbruchs in seinem Dorf mitgestalten soll. Es ist ein wunderbar langsames, atmosphärisch dichtes Buch, voll sinnlicher Alltagsdetails. Ein Dorfkrämer etwa zeigt seine fein säuberlich etikettierten Schubladen mit den Mehlsorten: »Wirklich, es gibt zehn verschiedene Weißtöne: Das eine Mehl ist schneeweiß, ein anderes wie Milch, das nächste hat die Farbe der Birkenrinde; dann kommt eines mit einem Stich ins Gelbliche; und da sieht
eines aus wie das Fett eines geschlachteten Tieres; daneben ist wieder ein ganz anderes, das eher der Farbe des Schweinefleisches gleicht; dann gibt es eines, das aussieht wie Kalk, und zuletzt noch ein eigenartiges, rauhes Weiß wie Fließpapier.«
15. November
Lesereise: Bremen, Lübeck, Rostock, Lüneburg, Hannover, Mühlheim in einem Omnibus, Köln beim Rundfunk, Oldenburg.
Zugfahren. Lesen. Hotel. Zugfahren. Flache Landschaft mit Jägersitzen. Sind es so viele oder sieht man, wenn sie einmal aufgefallen sind, nur noch Jägersitze? Wie bei den Pilzen, nur sucht man Jägersitze nicht. Heute etwas Licht, nicht nur Regen wie an den vorangegangenen Tagen. Der Himmel lockert auf, transparente Bläue, Wolken von einem warmen, leicht schmutzigen Weiß. Ich bin den Glanz gewohnt. Ich nehme einen Verlust der Schau-Unschuld wahr.
Gestern fragte ein junger Mann aus dem Publikum: Warum schreiben Sie nicht mehr Nähe?
Hotel Steigenberger in Rostock: Es riecht schlecht beim Betreten des Zimmers. Nicht schmutzig, aber unangenehm, eine Mischung aus Rauch und Raumspray.
Was ist ein gutes Hotel?
Beim Frühstück noble Massenabfertigung. Schlangestehen am Lachs. Erinnerung an meine Mutter, die Buffets ablehnte. Sie wollte ihr Frühstück am Tisch serviert bekommen. Sie wollte sich nicht anstellen, sich etwas nehmen müssen.
Lüneburg, Frühstück im Hotel Bremer Hof: Handwerker, Handlungsreisende, der solide Morgengeruch von Arbeit.
Am Bahnhof in Oberhausen das Reklameschild in geschwungener Schrift »Rosen erfreuen immer« und »Rosen unsere Stärke«. Am nächsten Tag beim Frühstück auf dem Tisch die Karte: »Today’s recommendation: Discover love. Order a dessert.« Auf der Rückseite in entschärfender deutscher Übersetzung: »Unsere Empfehlung des Tages: Entdecken Sie eine neue Liebe. Bestellen Sie ein Dessert.«
Köln, WDR-Studio. Die verrückte Intimität eines Tonstudios. Auf den Ohren spüre ich das Unverhältnismäßige von Kopfhörern. Hinter Glas sehe ich zwei junge Männer, die meinen Atem beurteilen. Sie hören jede Nuance, jedes Schlucken. Ich muß mich jetzt auf diese technische Übernähe einlassen. Ich schaue gegen die Scheibe, zu den beiden Gesichtern, und denke, also gut, jetzt lese ich richtig schön. Und auf einmal tragen die Sätze.
Danach Einkaufen mit Andreas. Jedesmal bin ich erstaunt über seine Größe. Er hat gerade begonnen, an der Deutschen Sporthochschule zu studieren. Er braucht alles: T-Shirts, Hosen, Jacken. Ich bin gerne in Sportgeschäften. Ich zähle die Stunden. Noch drei, noch anderthalb, noch eine. Wir gehen chinesisch essen. Wir verabschieden uns am Bahnhof. Er fährt vor mir ab.
Silvia in Hannover. Wir gehen persisch essen. Wir kaufen einen weißen Mantel aus Wollplüsch, Strumpfhosen, Schuhe. Ich kaufe mir einen schwarzen Pelikanfüller mit dünner Feder. Wir ziehen uns um im Hotel Luisenhof, ich habe ein riesiges Zimmer, wir plündern die elaborierten Badeartikel. Silvia ist schmal, anmutig, mit schulterlangem, braunem Haar. Sie kommt mit zur Lesung. Danach trinken wir Weißwein an der Hotelbar. Wir beobachten den
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