Alle Farben des Schnees
Kunstrasen. Sie staunen. Hinter uns startet ein Flugzeug.
Wien-Zürich ist eine Stunde. Vom Flughafen Zürich nach Sent sind es vier.
28. September
Herbstbäume wie große Früchte. Aprikosenlicht, Apfelglanz. Eine flammende Birke. Noch sind die Lärchen grün, aber bald brennen die Hänge bis hinauf ins Blau.
Abends. Ein Feriengast, Herr R., kommt zurück von einer Fahrradtour. Er strahlt. Wo er denn war, frage ich. Über den Berninapaß, sagt er. Wie? sage ich. Er nickt: mit dem Zug bis Pontresina, dann zur Paßhöhe Ospizio Bernina und von da die lange Abfahrt nach Tirano hinunter. Mit dem Zug zurück. Auf der Paßhöhe sei Winter gewesen, alles voller Schnee. Und in Tirano unten dann die Zitronenbäume. Er habe eine Pizza im Freien gegessen.
Anfang Oktober
Im Dorf liegen 20 cm Schnee, der Himmel ist weiß, die Berge sind nur noch eine Schabespur im Weißen.
Kurz nach unserem Umzug brachte Matthias eine Schulkameradin mit, ein Mädchen mit blauen Augen und braunen Locken. Das Kind betrat unsere Wohnung und sah sich um. Langsam sah es über die hohen Wände mit den sehr vielen Büchern, und ich sah, daß es vielleicht noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen hat.
Aber das Mädchen sah, daß ich das sah.
Da drehte es sich zu mir um, schlug die großen Augen auf und sagte: Und mein Vater hat 200 Schafe!
Donnerstag, 8. Oktober
Chorprobe in Ramosch, dem tiefer gelegenen Nachbardorf. Wir treffen uns in Sent beim Brunnen auf dem Platz. Wir sind etwa zehn Sängerinnen und Sänger; wir rutschen zusammen in drei Autos. Wenn wir weniger sind, auch in zwei. In den Autos wird romanisch gesprochen. Ich singe gerne, aber ich singe im Chor von Ramosch, weil es eine sichere Möglichkeit ist, einen Abend mit Romanen zu verbringen. Ganz langsam lerne ich sie kennen, den Mann von der Pension am Platz, seine Tochter vom Senter Tourismusbüro, die Kindergärtnerin
in der Filzjacke, die Pensionärin, die in Südamerika gelebt hat, Wanda, die holländische Besitzerin des Hotels Val Sinestra, in dem vor allem holländische Reisegruppen Ferien machen. (Es gibt einen direkten Busverkehr von Holland nach Sent; Minas Mann Jürg fährt im Winter wöchentlich einen der Busse.) Oft kommt auch Annina, eine junge Schauspielerin, zu den Chorproben.
Die Chorleiterin Nina ist Sopranistin; an der Musikschule von Scuol unterrichtet sie Gesang. Die junge, alleinerziehende Mutter aus Bayern hatte sich während der Ferien im Unterengadin in einen einheimischen Snowboardlehrer verliebt. Mittlerweile sind sie zu viert. Nina leitet den Chor auf romanisch. Es ist schön, in einem Chor zu stehen. Am Donnerstagabend bin ich eine Stimme in einer größeren Stimme, die mich trägt. Quai fast tü schon! Das machst du schon, sagt Nina zu einem Tenor, der heute alleine singen muß. Dann lacht sie und sagt: amo üna jada. Noch einmal. Wenn es gar nicht geht, singt Nina mit. Sie gibt nicht auf. Und vermutlich singe ich auch im Chor von Ramosch, weil Nina ihn leitet.
Später in der Nacht, beim Aussteigen auf dem Senter Dorfplatz, sagt die junge Schauspielerin: Ich wollte nicht hierbleiben. Ich kam aus Barcelona, ich wollte sehen, was ich weiter machen kann. Aber dann gab es hier so viele Möglichkeiten. Und weißt du, im Dorf bin ich die Annina. Sie kennen mich und sagen auf der Straße: Chau Annina!
Anninas Vater ist Tscheche, er kam nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die Schweiz. Ihre Mutter ist Romanin.
Sonntag, 18. Oktober
Literaturtage in Konstanz. Ich soll auf dem Flugplatz in einem Hangar lesen. Die Lesung beginnt um 17 Uhr. Es ist noch Zeit. Einer der Piloten legt mir die Hand auf die Schulter und macht eine auffordernde Kopfbewegung. Ich komme mit über den Rasen, und da zieht er schon eine Plane von einem zweisitzigen Ikarus-Leichtflugzeug. Ob ich Angst habe? Er startet zu einen Rundflug über den Bodensee. Ich sehe den Rhein im See. Seinen Flußkörper in Grün, Türkis, fast blau. Ob er auch ins Engadin fliegen könne? frage ich den Piloten. Freilich, sagt er sofort, Flugplatz Samedan. Sent, sage ich, heißt mein Dorf, bei Scuol. Scuol, sagt er, kenne ich. Er deutet mit der Hand über die Alpen. Ungefähr dort, sagt er.
21. Oktober
Nach der Sommerpause haben die Klavierstunden bei Oscar wieder begonnen. Oscar, geboren auf Sizilien, unterrichtet an der Musikschule in Scuol. Er ist Konzertpianist. Schnell habe ich mich daran gewöhnt, daß Matthias besser spielt als ich, nicht nur weil er
Weitere Kostenlose Bücher