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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Barkeeper, der mit einsamen Trinkern lächelt, als seien sie bei ihm für eine Weile zu Hause. Ich bringe Silvia zur S-Bahn.
    Am Morgen der weiß eingedeckte Frühstückssaal, die Kronleuchter. Die jungen Menschen, die Kaffee in schwerem Silber servieren. Sie stehen gerade da, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Das Hotel ist immer noch sehr schön, aber gestern war es schöner. Was ist ein gutes Hotel, wenn man allein ist?
     
    Zurück nach Sent. Umbauarbeiten am Bahnhof von Scuol. Mit Beginn der Wintersaison wird es eine neue, schnellere Gondel geben. Und eine renovierte Bahnhofshalle.
Ich möchte eine Elegie auf den alten Wartesaal schreiben. Er war wie ein Wohnzimmer, rote Plüschsofas, dunkle Holztische, in deren Oberfläche seit 100 Jahren Namen und Botschaften eingekerbt worden waren. An den Wänden alte Reiseplakate aus der Zeit, als Tourismus noch Fremdenverkehr hieß. Die Kinder waren klein, und wenn es schneite, spielten wir halbe Vormittage lang Skat in den weich gefederten Sofas, bis der Himmel aufklarte und wir doch noch mit der Gondel auf den Berg hinauffuhren.

18. November
    Es stinkt; ist er immer noch da? Warum schläft er nicht?
    Am Anfang dachten wir, es sei eine Ratte. Olivenkernförmige Kotstückchen lagen in der Waschküche. Aber unsere Nachbarn sagten, Ratten gebe es im Dorf nicht. Hier gebe es Siebenschläfer. Also hat sich Manfred von unserem Architekten Jachen eine Siebenschläferfalle ausgeliehen, ein Drahtkästchen auf einem Holzbrett, dessen Eingangsklappe durch eine gespannte Metallfeder hochgehalten wird. An einer Feder hängt der Haken für einen Köder. Wir versuchten es mit Käse. Morgens kehrten wir die Olivenkerne auf, die keine Olivenkerne waren. Wir nahmen eine Erdnuß. Aber auch die Erdnuß hing in der Frühe unberührt appetitlich am Haken, als sollten wir sie essen. Als sein Geschenk, sozusagen.

    Im Chor sagte ein Baß, am besten fange man Siebenschläfer mit Schokolade. Bitter oder Vollmilch sei egal. Schokolade also, sage ich. Manfred aber hat gerade die Strategie geändert und steckt Kampfer in Löcher, hinter denen er den Siebenschläfer vermutet. Jetzt stinkt es schlimmer, als wenn eine ganze Siebenschläferfamilie pinkelt. Mir brennen die Augen. Der Siebenschläfer, sagt man, sei geräuschempfindlich. Ich könnte es mit Diabelli versuchen.

26. November
    München. Manfred moderiert Peter von Matt im Lyrikkabinett. Ich frage Raffaella, die Mutter von Fabio und der kleinen Luisa, ob Matthias bei ihr essen und schlafen kann. Raffaella kommt aus Calabrien; wir sprechen eine Mischung aus Romanisch und Italienisch. Und verständigen uns in drei Sätzen. Es ist wie immer kein Problem.
    Vor dem Lyrikkabinett gehe ich bei Hans Magnus Enzensberger vorbei, er wohnt am Englischen Garten. Ich habe mitgebracht: Käse aus der Senter Molkerei und Senter Alpkäse, Trockenfleisch vom Hirsch, Rosmarinwurst, Wildschweinwurst mit Peperoni. Ich merke, daß ich stolz bin auf die guten Sachen, die in Sent hergestellt werden. Zum ersten Mal komme ich aus Sent zu ihm. Ich habe auch ein Bändchen von Luisa Famos’ »Poesias« dabei. Und eine Flasche Wein.

     
    Neu ist die große Klimaanlage an der Fensterfront der Penthousewohnung. Die bodenlangen Vorhänge mit den Pfauenfedern sind ausgeblaßt. Ich habe sie Ende der siebziger Jahre zum ersten Mal gesehen. Damals waren sie neu und frisch aufgehängt, gold-grün-blaubunt, als sei die Aussicht jederzeit bereit, ein eroberndes Rad zu schlagen. Jetzt muß man wissen, daß es Pfauenaugen sind. Die Zeit hat sie in ein zeichenloses Muster verwandelt.
    Er lächelt, schlägt die langen Beine übereinander. Ein schmaler, altersloser 80 jähriger Mann, entspannt. Und doch scheint es, als ob dem Habitus eine klare Entscheidung vorausginge. Ein höfliches Pflichtgefühl gegenüber der Außenwirkung. »Von Matt«, sagt er, ja er kenne ihn vom »old boys club«, und er nuschelt das »Pour le Mérite« hinterher; denn ich soll es schon verstehen. Er kokettiert mit der Faulheit. Er lerne jetzt, nichts zu tun. Dieses Jahr habe er acht Veröffentlichungen, das sei ja peinlich. Und doch wirkt er überzeugend gelassener als früher. So, als ob ein langes Leben nun geleistet, und das, was noch komme, einfach eine Zugabe sei.
     
    Wie oft bin ich in diesem Raum gesessen? Das erste Mal gegen Ende des Studiums. Ich schrieb an meiner Abschlußarbeit über den »Untergang der Titanic«; das Gedicht aus Gedichten war gerade erschienen. Ich hatte es in einer Nacht

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