Alle lieben Merry
schroff gewesen war. Aber es zeigte Erfolg. Nach wenigen Sekunden hatte sie Lee am Apparat. Vielleicht hatte die Sekretärin sie doch nicht ganz so böse gestimmt weiterverbunden, denn er schien hoch erfreut über ihren Anruf.
“Wie geht es unserem schönen Vormund?”
“Ich habe ein Problem, Lee.”
“Dafür bin ich doch da, Süße. Schießen Sie los.”
Also legte sie los. Dass möglicherweise Charlenes Mutter angerufen hatte und dass diesem Anruf andere Anrufe vorangegangen waren, bei denen aufgelegt worden war. Dass sie sofort ihre und Charlenes Rechte kennen musste. Ob sie die Mutter hindern konnte, Charlene zu sehen? Ob sie das überhaupt tun sollte? Und wenn es wirklich Charlenes Mutter war, die angerufen hatte – konnte sie einfach hier auftauchen und rechtliche Ansprüche auf ihr Kind erheben?
“Wir atmen jetzt erst mal tief durch, Schätzchen. Niemand hat etwas davon, wenn Sie einen Herzinfarkt bekommen. Für solche Angelegenheiten haben Sie einen erfahrenen Anwalt. Sie zahlen mir viel Geld, also bekomme ich die Herzinfarkte für sie. So funktioniert unsere Beziehung.”
Er war pfiffig. Käuflich, aber pfiffig. Im Moment allerdings konnte Merry seine Pfiffigkeit nicht entsprechend würdigen. “Was mache ich, wenn sie auftaucht? Was soll ich tun, wenn sie …”
Zuallererst, erklärte Lee, müsste die Frau beweisen, dass sie Charlenes Mutter war, bevor sie die Kleine sehen konnte. Einfach an die Tür zu klopfen wäre kein Beweis.
Zweitens, wenn sich herausstellte, dass die Anruferin tatsächlich die Mutter war, hätte sie bereits seit Jahren kein Sorgerecht mehr. Der Tod ihres Exmannes gäbe ihr nicht das Sorgerecht zurück – obwohl sie sehr wohl das Recht hätte, vor Gericht angehört zu werden. “Sie kann ihren Fall dem Richter darlegen und erklären, dass sie sich verändert hat, keine Drogen oder was auch immer mehr nimmt und ihre Tochter sehen will.”
Merry sank unwillkürlich zu Boden, als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt. “Wenn sie also beweist, dass sie ein normales Leben führt, bekommt sie das Recht, Charlene zu besuchen …”
“Ja. Aber ich würde sagen, es ist ein großes
Wenn.
Außerdem wird sie eine große Überraschung erleben, wenn es ihr nur ums Geld geht – mir wäre es egal, wenn Superman persönlich hier auftaucht und Charlene haben will. Denn da ist immer noch der Trust, der das Vermögen des Kindes verwaltet. Niemand wird einfach dieses Geld nehmen und damit abhauen.”
“Ja, Lee – aber, verdammt, mir ist das Geld egal. Und vielleicht weiß Charlenes Mutter ja nicht einmal davon …”
“Merry, Schätzchen, vertrauen Sie mir. Sie wird es wissen. Noch einmal, der Grund, warum Anwälte wie ich so gut verdienen, sind die unverbesserlichen Optimisten. Sie sind so einer, falls sie es noch nicht bemerkt haben. Ein extrem unverbesserlicher Optimist. Und nur nebenbei, sogar wenn sie vor Gericht geht, gewinnt und vorerst einmal das Besuchsrecht bekommt, würde das nichts an Ihrem Status als Vormund ändern.”
“Vorerst?”
“Hey, Sie hängen total an dem Kind, was?”
“Ich liebe Charlie über alles”, sagte Merry. “Ich könnte sie nicht inniger lieben, wenn sie mein eigenes Kind wäre. Ich weiß nicht, wie sehr es auf Gegenseitigkeit beruht, denn wir sind mit Sicherheit so verschieden wie Tag und Nacht. Aber es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde. Sie ist etwas ganz Besonderes. So klug, so einzigartig, so charakterstark. Sie hat so viele Ideen, einen köstlichen, umwerfenden Humor und …”
“Schon gut. Wir brauchen jetzt nicht zu gefühlsduselig werden. Ich bin lediglich … überrascht. Ich habe ja mitbekommen, wie alles anfing, und, tja, mir ist bekannt, wie viel Geld in dieser Angelegenheit im Spiel ist. Allerdings habe ich nicht angenommen, dass Sie so sehr in der Mutterrolle aufgehen würden.”
“Lee …” Merry zupfte an ihrem Ohrläppchen, wie sie es immer tat, wenn sie nervös und mutlos war.
“Hören Sie, diese Lady handelt nicht besonders klug, wenn sie die Kleine aus heiterem Himmel anruft, ohne sich vorher anzukündigen und ohne gewisse Regeln einzuhalten oder zu bedenken, wie das Kind reagieren wird. Ein Punkt für Sie. Deshalb würde ich an Ihrer Stelle nicht allzu viel Zeit an den Gedanken verschwenden, das Kind zu verlieren.”
Doch. Sie würde Zeit verschwenden. Denn Sie hatte Angst.
“Ich will Sie nicht anlügen. Wenn die Frau vernünftig erscheint und ein normales Leben nachweisen kann, wird der Richter
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