Alle lieben Merry
ihr erlauben, das Kind zu besuchen.”
“Und das wäre ja nur richtig”, sagte Merry leise. “Charlene muss ihre Mutter sehen. Muss sie kennenlernen. Ich würde mich ihr nie in den Weg stellen. Aber …”
“Ja. Ich bin bestens vertraut mit diesem Wort
aber.
Aber so sieht es nun einmal im Moment aus. Wenn sie wieder anruft, geben Sie ihr meine Telefonnummer. Wenn es ihr ernst damit ist, Charlene zu sehen, muss sie erst an mir vorbei – oder mit ihren eigenen Anwälten vor Gericht. Wenn sie jedoch bei Ihnen zu Hause auftaucht, sperren Sie die Tür zu und rufen Sie mich an.”
“Das kann ich machen? Sogar wenn sie mir Beweise vorlegt, dass sie Charlenes Mutter ist?”
“Auf jeden Fall. Bis wir wissen, dass sie es ist – was mir fragwürdig erscheint –, halte ich es für besser, das Kind vor ihr zu schützen. Die beiden sollten sich nicht sehen. Das Gericht würde dies lediglich als ein Bestreben sehen, das Kind zu beschützen.”
“So sehe ich das auch. Aber ich war mir nicht sicher, dass das Gericht es auch so sehen würde.” Merry fühlte sich sehr erleichtert. “Vielleicht sollte ich auch die Schule darüber informieren, was passiert ist. Die Schulverwaltung wüsste dann, dass sie besonders wachsam sein muss, falls diese Frau versucht, Charlene in der Schule abzupassen.”
“Sehr gut. Vielmehr, sehr schlecht! Denn das hätte ich Ihnen sofort empfehlen müssen. Übrigens, brauchen Sie Geld?”
Himmel, er versuchte immer, Charlenes Geld auszugeben, dachte Merry. Ehrlicherweise musste sie zugeben, dass sie noch immer keinen Überblick über die Finanzen hatte. Sie befand sich in einem mühevollen Lernprozess bezüglich der Kosten für den Haushalt. Aber aus dem Trust kam jeden Monat haufenweise Geld, das wusste sie.
Im Moment allerdings kümmerte sie das nicht im Geringsten. In gewisser Hinsicht hatte das Gespräch mit Lee sie dieses Mal beruhigt. Die wirkliche Krise allerdings bestand nicht nur aus den rechtlichen Problemen, die auftauchen würden, falls Charlenes Mutter zurückkam.
Es ging darum, wie sie mit dem Kind umgehen sollte.
Charlene, die dachte, Merry wüsste nichts vom Anruf ihrer Mutter. Charlene, die sich ihr nicht anvertraut hatte und die man nur schlecht beschützen, unterstützen oder lieben konnte, wenn sie beide es nicht schafften, offen miteinander zu reden.
Das Problem bedurfte einer ausführlichen Gewissenserforschung. Alle Dinge, die sie für den heutigen Tag geplant hatte, blieben auf der Strecke. Doch als sie Charlene von der Schule abholte, hatte sie sich wieder gefasst. “Hast du heute eigentlich viele Hausaufgaben?”, fragte sie, als sie zu Hause ankamen.
Charlenes Antwort war so vorhersehbar wie Schnee in Minnesota. “Wahnsinnig viel. Und die Hausaufgabe in Englisch ist eine richtige Folter. Ich muss zwei ganze Seiten schreiben. Die Lehrerin ist ätzend. Und abgesehen davon quält sie uns gerne.”
Glücklicherweise hatte Merry Ähnliches schon gehört – zwar nicht im selben Wortlaut, aber doch im gleichen Grundtenor. Deshalb wurde sie nicht von einer Welle des Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft überschwemmt, wie es in den ersten Wochen der Fall gewesen war. Außerdem kannte sie die Englischlehrerin nun. Also fragte sie nur, was nötig war. “Habt ihr Mathehausaufgaben? Naturkunde?”
“Ja, ein bisschen Mathe, aber das ist keine richtige Arbeit. Er hat uns ein Problem gestellt, um zu sehen, ob wir es allein lösen können. Es ist eher Spaß als Arbeit.” Es folgte noch mehr Gejammer über die sadistische Englischlehrerin, die durch und durch unfair war, wahrscheinlich nächtelang wach blieb, um sich neue Methoden auszudenken, mit denen sie ihre Schüler quälen konnte, und die nur glücklich war, wenn die Kinder litten usw. usw.
Als Merry zu Wort kam, sagte sie: “Wenn du vor dem Essen mit deinen Hausaufgaben fertig bist, könnten wir nachher einkaufen gehen.”
“Hast du nicht
zugehört?
Ich werde niemals vor Mitternacht fertig sein. Unmöglich.”
“Oh, schade. Ich dachte nämlich an einen richtigen Bummel im Einkaufszentrum.” Eine winzige Lüge … Aber um ein Kind großzuziehen, bedurfte es gelegentlich einer kleinen Lüge. “Ich habe mir gerade gedacht, ob du vielleicht gerne bei ‘Best Buy’ vorbeischauen würdest.”
“‘Best Buy’? Ich bin mit meinen Hausaufgaben in einer Stunde fertig”, sagte Charlene schnell. “Natürlich wird das mega-anstrengend. Aber ich fange gleich an.”
Eine Stunde vor dem Essen war Charlene fertig.
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