Alle lieben Merry
dazwischenkommt.”
“Ja, ich glaube, es gibt einen. Ich finde es heraus. Sie müssen sich nicht darum kümmern.”
Merry hörte die Botschaft zwischen den Zeilen.
Ich werde Ihnen nicht zur Last fallen. Lassen Sie mich nur in meinem Zuhause bleiben. Tun Sie einfach so, als gäbe es mich gar nicht.
Verdammt, dieses Kind brach ihr sogar das Herz, wenn es nichts sagte. “Wann soll ich dich nach der Schule abholen?”
“Das brauchen Sie nicht. Es gibt eine Fahrgemeinschaft. Weil mein Dad ja gearbeitet hat. Es sind vier Mütter, die abwechselnd fahren. Dad hat immer für das Benzin gezahlt. Heute nimmt mich Mrs. Sheinfeld mit. Die Nummern stehen alle in dem Rolodex neben dem Telefon.”
“Gut. Und wann kommst du nach Hause?”
“Kommt auf den Tag an. Normalerweise vor vier Uhr. Außer, wir haben Fußballtraining oder so was. Bevor ich zehn geworden bin, hat mein Dad eine Art Babysitter für mich engagiert, der hier war, bis er kam. In der Nachbarschaft ist auch immer jemand, falls ich etwas brauche. Und er vertraute mir.”
Merry spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Seit sie hier war, tat ihr Herz das andauernd. Das militärische Outfit und die Schweigsamkeit des Kindes waren verdammt beunruhigend und verwirrend, aber irgendwo hinter all dem steckte ein schrecklich trauriges Kind. Das sich eisern beherrschte. Es wollte ganz offensichtlich nicht von ihr getröstet werden – aber Merry konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie noch niemals ein Kind gekannt hatte, das Zuneigung und Liebe so sehr brauchte wie Charlie.
Auf dem Notizblock, den Merry neben sich liegen hatte – und sie war
niemand
, der gerne Listen machte – war sie allein an diesem Morgen bereits auf der dritten Seite angelangt. Sie brauchte die Namen der Mütter, die Charlene im Auto mitnahmen, abgesehen von Mrs. Sheinfeld, die heute dran war. Himmel, musste sie womöglich bei dieser Fahrgemeinschaft mitmachen? Wie viele Kinder musste sie wohl in ihrem Mini unterbringen? Wer war der Arzt des Kindes? Und wer der Zahnarzt? Wer holte den Müll ab?
Die Wahrheit war, dass diese Liste sie in Angst und Schrecken versetzte. Aber zumindest die Panik von gestern hatte sich gelegt. Sie steckte voller Tatendrang und neuer Kraft, sich den Herausforderungen zu stellen. Alles wegen Jack, dachte sie. Es war so eine große Hilfe, einen Erwachsenen zu haben, mit dem man reden konnte. Bei dem man sich ausweinen konnte.
Den man küssen konnte.
Zwischen einem Bissen Zimtschnecke und einem Löffel Müsli mit Blaubeeren wanderten ihre Gedanken nun doch wieder zum Kuss von letzter Nacht. Sie prüfte ihr Gewissen – aber, nein, da war keine Spur von Schuldgefühl. Er hatte sich großartig verhalten. Und daran, Dankbarkeit und Sympathie auszudrücken, war nichts Falsches. Sie hatte sich ihm ja nicht in einer Art an den Hals geworfen, dass er es als Anmache oder Leidenschaft hätte auffassen können.
Obwohl sie genau daran gedacht hatte.
Immer noch daran dachte. Sie hatte sofort gemerkt, dass die Funken gesprüht hatten. Total. Es war kaum auszuhalten. Aber es war der falsche Zeitpunkt in ihrem Leben, endlich den Diamanten unter den Männern zu finden. Im Moment war an einen Mann einfach nicht zu denken – sie durfte sich weder für einen interessieren, noch ihren Hormonen erlauben, ihr eine rosarote Sicht der Dinge vorzugaukeln.
Im Augenblick durfte nichts wichtig sein außer Charlene.
Bis jetzt hatte sie tunlichst vermieden, etwas über die Kleidung der Kleinen zu sagen, aber es war ihr unmöglich, sich eine klitzekleine, ehrlich besorgte Bemerkung zu verkneifen.
“Du fühlst dich wohl dabei, in diesen Klamotten zur Schule zu gehen, oder?”
“Klar. Es gibt Vorschriften. Mädchen müssen ihren Bauch bedecken. Und man darf keine BH-Träger sehen. Als ob ich mir deswegen Sorgen machen müsste.” Ein lautes Schnauben verdeutlichte eindrucksvoll, was Charlene von knospenden Brüsten hielt. “Oh, noch was. Keine obszönen Aufdrucke auf T-Shirts. Und kein Gesichtsschmuck.”
Merry dachte nach, was Gesichtsschmuck übersetzt bedeuten konnte. Nasenringe und Lippenpiercing, nahm sie an. “Diese Regeln klingen gar nicht schlecht.”
“Ja. Aber niemand schreibt mir vor, was ich anzuziehen habe.” Zum ersten Mal schaute Charlene ihr in die Augen – aber nicht lebhaft, sondern unverhohlen angriffslustig.
Merry war hocherfreut über eine so normale, kindgemäße Rebellion und bemühte sich, jetzt nicht alles zu vermasseln. “Hey, wenn du darauf
Weitere Kostenlose Bücher