Alle lieben Merry
Smileys. Aber sie konnte jenen Charlie, den sie gekannt hatte, nicht mit demjenigen in Einklang bringen, der diese scheußlichen Bilder ausgesucht hatte.
Es ging ihr nicht aus dem Kopf, dass es einen wichtigen Grund, einen Auslöser dafür gegeben haben musste. Etwas, das sie wissen musste. Etwas, das dabei helfen würde, Charlene und die Beziehung zu ihrem Dad und das gemeinsame Leben der beiden zu verstehen. Wenn sie nur dahinterkommen könnte.
Schließlich gab sie auf, das Unverständliche analysieren zu wollen und besann sich wieder auf ihr ursprüngliches Vorhaben, sich ein Zimmer zu suchen. Das Obergeschoss stand leer, war ziemlich geräumig und könnte später einmal eine Alternative sein, aber im Moment wollte Merry nicht so weit weg von Charlene sein. Deshalb entschied sie sich für das freie Zimmer neben Charlies Schlafzimmer. Offensichtlich hatte es als Raum für alles gedient, was nicht mehr gebraucht wurde: von ausgemusterten Sportausrüstungen über Koffer und Reisetaschen bis zu Sommermänteln. Aber es hatte eine ausziehbare Couch. Die Wände waren in einem hässlichen Braungrau. Egal. Gegenüber von Charlies Schlafzimmer gab es ein Badezimmer, und sie hatte den Blick auf Jacks Garten.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Jack und dem Kuss letzte Nacht, aber sie schob die Bilder gnadenlos beiseite. Nachdem sie ihr Bett frisch bezogen, ihre Toilettenartikel im Badezimmer verstaut und das Zeug, mit dem ihr Zimmer vollgestopft gewesen war, in eine Kammer einen Stock höher gebracht hatte, war es bereits später Vormittag. Und sie musste noch ihre drei Seiten lange Liste in Angriff nehmen … Doch plötzlich klingelte das Telefon.
Es war die Schule. Der stellvertretende Direktor. Der Mann klang nett. Mit seiner sanften und geduldigen Stimme wirkte er auf Merry wie jemand, der Kinder mochte. Aber er hatte nur wenig Erfreuliches zu berichten.
Er behauptete, Charlene habe ein anderes Kind geschlagen. Weil sie aber ein Mädchen und der Junge, den sie geschlagen hatte, einen Kopf größer war – und weil sie vorher noch nie Probleme gemacht hatte – habe sich die Schulleitung entschlossen, sie nicht mit der sonst üblichen Suspendierung zu bestrafen. Man habe auch berücksichtigt, dass ihr Vater gestorben sei und Charlie ohnehin schon Unterricht versäumt hätte. Aber heute müsse man sie nach Hause schicken – Merry solle sie sofort abholen – und die nächsten zwei Wochen müsse sie jeden Nachmittag nachsitzen.
Das war’s dann also mit dem Plan, die Mütter von der Fahrgemeinschaft anzurufen, sich um eine Trauertherapie zu kümmern, sich mit der Technik der Waschmaschine anzufreunden, nachzusehen, welche Kleidung Charlie im Schrank hatte und was an Wäsche fehlte, die Verfahrenspflegerin anzurufen um herauszufinden, was für eine Frau sie war, und sich schlau zu machen, wie es mit dem Haushaltsgeld aussah …
Besonders Letzteres beunruhigte Merry ziemlich stark. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, was es kostete, das Haus zu erhalten. Und noch weniger Ahnung hatte sie, wie es mit den Rechnungen in Bezug auf diesen Vermögensfonds funktionieren sollte.
Aber das alles war nur materielles Zeug. Nichts, was wichtig war.
Sie schaffte es in weniger als drei Minuten zur Schule, stürmte hinein und blieb sofort wie angewurzelt stehen. Die jämmerliche Gestalt, die allein im Flur saß und Kopf und Schultern hängen ließ, war ohne Zweifel Charlie. Merry musste sich sehr beherrschen, um sie nicht gleich in ihre Arme zu schließen. Aber dann blickte Charlie auf. Blitzschnell bekam ihr Gesicht einen kalten, verschlossenen Ausdruck.
“Ich nehme an, Sie werden mich jetzt anbrüllen.”
“Eigentlich habe ich vor, der Schulleitung Bescheid zu geben, dass ich hier bin, damit wir nach Hause fahren können.”
“Ach so.”
Der stellvertretende Direktor sah so aus, wie Merry ihn sich am Telefon vorgestellt hatte – ein großer Mann mit einer leisen Stimme, der eine Menge darüber zu erzählen hatte, dass Gewalt niemals eine Lösung war, dass gewisse Regeln und Vorschriften wichtig seien und dass Charlene über ihr Verhalten und dessen Auswirkung auf andere nachdenken sollte.
Er drückte sich umständlich und wortreich aus, aber er schimpfte nicht. Dennoch reagierte Charlie so, dass man meinen konnte, er habe gerade ein paar Kätzchen ausgepeitscht: Sie stürmte aus dem Schulgebäude zum Auto und knallte die Wagentür zu. Daheim angekommen, stürzte sie sofort ins Haus.
Merry sagte nichts, sondern ging
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