Alle lieben Merry
wartest, dass ich deine Klamotten kritisiere, kann ich dir gleich sagen, dass es nicht passieren wird. Wenn es dir gefällt, dann ist es okay für mich.” Na ja,
fast
okay. Sie bemühte sich, es okay zu finden. Gut, sie dachte vielleicht, dass dieses militärische Outfit eigentlich indiskutabel war, aber ihre viel größere Sorge war, wie sie es schaffen konnte, ein bisschen Vertrauen herzustellen. Es ging nicht um oberflächlichen Quatsch wie Kleidung. “Charlie … du hast noch gar nichts von der Schule erzählt. Gibt es irgendwelche Fächer, mit denen du dich schwertust? Sag es mir. Oder gibt es Lehrer, die du besonders gern magst?”
“Burkowitz.”
Nicht wirklich eine Antwort, aber immerhin etwas, dachte Merry. “Ja?”
“Er unterrichtet Mathe. Und Computer. Er ist einfach krass.”
“Krass?”
“Krass. Also, er ist cool. Krass”, wiederholte sie, als verstünde jeder, was gemeint war.
Ohne Aufforderung spülte die Kleine ihre Schüssel aus und stellte sie in den Geschirrspüler. Dann zog sie ihre Jacke an und stellte sich an die Tür. Merry sprang auf, suchte ihre Schuhe und ihre eigene Jacke, die sich anscheinend selbstständig über einen Stuhl im Wohnzimmer geworfen hatte.
“Während ich in der Schule bin, gehen Sie nicht ins Zimmer meines Dad, okay?”, fragte Charlene beim Hinausgehen.
“Okay.”
“Und Sie berühren auch Dads Sachen nicht. Gar nichts. Auch nicht in seinem Arbeitszimmer, okay?”
“Mach dir keine Sorgen, Charlie. Ich habe dir versprochen, dass ich nichts dergleichen tue.” Sie hatten gestern Abend darüber geredet, nachdem Charlene das Thema angesprochen hatte, wobei sie ihre Finger nervös knetete und ihre Lippen beinahe gezittert hatten. Sie schien besessen vom dem Gedanken zu sein, jemand könnte die Sachen ihres Vaters anrühren oder verschwinden lassen. Nichts lag Merry ferner, als diesen Wunsch nicht zu respektieren. Früher oder später würde sich die erste, frische Trauer gelegt haben. Und dann war immer noch Zeit genug, sich Gedanken zu machen, was mit Charlies Sachen geschehen sollte.
In weniger als zehn Minuten waren sie an der Schule. Merry ging nicht mit hinein – wie peinlich wäre das denn? Sie hatte keineswegs vergessen, wie grässlich es war, eine Sechstklässlerin zu sein – auf der niedrigsten sozialen Stufe der Junior High School. Außerdem waren Mädchen an der Schwelle zum Teenager schlimmer als Wildkatzen.
Aber sobald Charlene drinnen war und die Schulglocke läutete, fühlte Merry sich sicher und betrat selbst das Schulgebäude. Sie sah sich kurz um, bevor sie ins Büro des Direktors ging. Dieser entpuppte sich als Frau, eine Mrs. Apple, deren Name wegen des satten Rots auf ihren Wangen geradezu unglaublich gut zu ihr passte. Merry konnte nicht nachvollziehen, warum die Frau ein derart grelles Rouge gewählt hatte, das so überhaupt nicht zu ihrer olivfarbenen Haut passte.
“Ich wollte mich nur kurz vorstellen”, sagte Merry, reichte der Direktorin die Hand und erklärte, wie sie Charlenes Vormund geworden war und auf welche Weise das Mädchen gerade seinen Vater verloren hatte. Mrs. Apple unterbrach sie rasch.
“Wir wissen Bescheid. Sehr traurige Angelegenheit.”
Die ganze Schule war eine sehr traurige Angelegenheit, dachte Merry. Sie hatte bis jetzt zwar nur einen langen Gang zu sehen bekommen haben, aber der sprach Bände. Es gab keine Graffiti an den Wänden, keine verbeulten Spinde, keinen Lärm. Die Glocke hatte erst vor ein paar Minuten geläutet, und trotzdem saßen die Kinder schon sittsam und brav auf ihren Plätzen. Die Klassenzimmer waren mit Teppichen ausgelegt, und die Hälfte der Mädchen, die sie gesehen hatte, trugen bereits Kaschmirpullover. Meine Güte, und das hier war nur die Junior High …
“Nun, ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen, dass ich da bin und Sie mich anrufen können. Charlene und ich lernen einander erst kennen, ich fürchte also, ich bin nur eine weitere große Veränderung in ihrem Leben. Wenn ich etwas tun kann, was die Schule oder irgendwelche Aktivitäten betrifft, an denen sie teilnimmt …”
“Oh, ja.” Mrs. Apple wurde plötzlich recht lebhaft. “Wir brauchen immer Begleiteltern. Also jemanden, der auf Ausflüge mitfährt oder bei Sportveranstaltungen dabei ist.” Und dann war da natürlich auch der Elternbeirat. Und selbst gebackener Kuchen, dessen Verkauf der Schule zugutekam. Überhaupt jede Menge Keksebacken. Und das Komitee, das Sponsoren für Sportgeräte auftreibt. “Wir
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