Alle lieben Merry
haben eine Tanzveranstaltung am Valentinstag – die erste für die Sechstklässler. Dafür brauchen wir Eltern, die mithelfen.”
“Sehr gerne”, sagte Merry. Sie schluckte. Prinzipiell war sie bereit, alles zu tun, wenn es Charlene half. Aber sich sozusagen von heute auf morgen in eine engagierte Vorstadt-Mom zu verwandeln, bedeutete in Wahrheit eine Totalveränderung ihrer Person. “Ich hatte gehofft, dass Sie Charlenes Lehrer darüber informieren, was sie durchgemacht hat. Mir ist bewusst, dass sie mehr als eine Woche vom Unterricht versäumt hat, aber …”
“Das bereitet uns keine Sorgen. Wie Sie wissen, ist Charlene eine ungewöhnlich begabte Schülerin. Wir sind uns sicher, dass sie schnell alles nachholen wird.”
Hm, der Besuch in der Schule war zwar nicht berauschend, aber im Wesentlichen okay gewesen, dachte Merry, als sie zurück zum Haus fuhr. Ihre nächste Aufgabe für den heutigen Tag war, die Kaffeemaschine zu besiegen. Und – nach einem Anruf bei ihrem Dad – einen Platz zu finden, wo sie schlafen würde.
Am naheliegendsten waren Charlies Schlafzimmer oder sein Arbeitszimmer, beides schöne, große Räume. Aber in der ersten Nacht hatte sie auf der Couch campiert, weil sie vor Erschöpfung dort eingeschlafen war, und gestern Abend hatte sie nur einen Blick in das Schlafzimmer geworfen, als Charlie sie dabei gesehen und eine Panikattacke wegen der Sachen ihres Dads bekommen hatte. Diese beiden Räume kamen also nicht in Frage. Merry würde es nichts ausmachen, für immer auf der Couch zu campieren. Sie hatte oft das Gefühl, ihr ganzes Leben sei eine Art Campingausflug – stets bereit, die Zelte abzubrechen und woanders wieder aufzuschlagen. Doch die Situation hier war anders.
Dieses Mal musste sie versuchen, sesshaft zu werden. Zu bleiben.
Es gab keinen Grund, warum sie nicht in der Lage sein sollte, sich zu ändern. Ihr unstetes Leben und der ständige Jobwechsel hatten nie an ihrer eigenen Person gelegen. Sondern an ihrer Mutter. Was bedeuten könnte, dass jetzt der ideale Zeitpunkt war, das leidige Problem in den Griff zu bekommen und diese Geschichte aufzuarbeiten. Aber im Moment hatte sie zu viel zu tun.
Da die Kaffeemaschine den technischen Kampf gegen sie erneut gewonnen hatte, musste sie sich – wieder einmal – mit einer Tasse Instantkaffee begnügen. Sie hatte sich in der ersten Nacht das Haus zwar angesehen und aufgeräumt, aber jetzt unterzog sie es einer genaueren Untersuchung. Nicht nur, um einen Platz zum Schlafen zu finden, sondern um ein Gefühl dafür zu bekommen, was für ein Mensch und Vater Charlie gewesen war.
Wenigstens im Wohnzimmer waren Spuren jenes schrullig-humorvollen Mannes zu sehen, als den sie Charlie erlebt hatte. Die Couch hatte die Form eines Knochens – eines großen grauen Hundeknochens aus weichem Leder. Und im Vorzimmer hatte er eine Dartscheibe aufgehängt – eine für Magnetpfeile, nicht für die spitzen aus Metall. Sie zeigte deutliche Spuren der Abnutzung, also hatten Vater und Tochter offensichtlich viel miteinander gespielt. Ein Berg von Kissen auf dem Wohnzimmerboden ließ erkennen, dass die beiden gern am Boden vor dem Fernseher gelegen hatten.
Aber die seltsame moderne Kunst im ganzen Haus wirkte noch immer gespenstisch auf sie.
Ein riesiges Bild nahm die ganze Wand im Wohnzimmer ein. Der Künstler hatte es am unteren Rand mit “Rote Dominanz” betitelt, und es sah aus, als hätte ein extrem übellauniger Mensch große verwegene Farbkleckse in Rot, Schwarz und Gelb auf die Leinwand geworfen, sie trocknen lassen und dann gerahmt. Bog man um die Ecke Richtung Küche, bekam man einen langen, surrealen Akt in Öl zu sehen. Kein erotischer oder auch nur annähernd erotischer Akt, also nichts, was für Charlene ungeeignet gewesen wäre. Die Gestalt hatte sich völlig zusammengekauert. Hauptsächlich waren Knie und Ellenbogen sowie ein schief hängender Kopf zu sehen. Auf Merry wirkte es insgesamt wie ein lebendes Skelett – eines, das sie jedes Mal anzuspringen schien, wenn sie um die Ecke bog.
Eine weitere moderne Nackte, diese allerdings in Grün, hing an der Wand in Charlies Schlafzimmer. Die grüne Frau schien zu schreien, was vielleicht daran lag, dass der einzige identifizierbare Körperteil der Mund war. Jedes Mal, wenn Merry vorbeiging, hatte sie das Bedürfnis, auf Zehenspitzen zu schleichen.
Zugegeben, Merry war vielleicht keine Koryphäe auf dem Gebiet der hohen Kunst, ihr Geschmack ging eher in Richtung großer gelber
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