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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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der Welt jenseits des Hofs hatte, waren unaussprechlich. Kamen Fremde, dann verdoppelten die Mädchen ihre Last - ein Baby plus Wasserkrug; Bettwäsche plus Windeln. Wie geschickt sie waren! Welche Hilfe sie darstellten! Rehäugig und scheu, wollten sie unbedingt gefallen, mitgenommen werden. Schüchtern senkten sie den Kopf und vermieden Blickkontakt, so weit es nur ging. Durch den Tod ihres Vaters und ihrer Mutter lag ihre Zukunft im Ungewissen. Ihre Schulzeit war zu Ende. Ihre besten Freundinnen, ihre Kameradinnen aus dem Englischkurs, in der Volleyballmannschaft und vom Chor hatten sie mittlerweile sicher schon vergessen. Diese Mädchen hatten mitten im Schuljahr die Schule verlassen und waren verschwunden. Hausbesitzer oder entfernte männliche Verwandte hatten sich ihres Zuhauses bemächtigt. Ihre Freundinnen, ihre Lehrer (diejenigen, die noch nicht gestorben waren) kämen nicht auf die Idee, sie hier zu suchen, hinter den Mauern eines Waisenhauses unter Kleinkindern in Windeln. Aber sie waren nicht undankbar! Sie knieten auf dem Boden in Haregewoins Wohnzimmer, wenn diese Besuch empfing; sie servierten Melonenwürfel und Schüsseln mit Trauben; sie schenkten Tee ein. Trotz des Tumults, den die Besuche hervorriefen, verließ Henok seinen Posten neben der Haustür nicht, überzeugt von seiner Geheimstrategie. Er kannte das alles schon: die hochgereckten verweinten Gesichter, die in die Luft gestreckten rundlichen Arme, die älteren Mädchen, die sich einen Besen schnappten und wie besessen kehrten. Das brachte den Kindern bestenfalls einen kurzen Moment Aufmerksamkeit von einer Fremden ein, die aus einem polierten Geländewagen oder einem verbeulten Taxi stieg, ein mitleidiges Wort von einer Frau, die sich zu ihnen hinunterbeugte, manchmal sogar eine wohlriechende, weiche Umarmung. Aber Henok wusste auch, dass die Kinder von diesen Frauen nicht mitgenommen werden würden.
    Früher hatte Haregewoins Liebe für alle Kinder gereicht. Babys, die an Besucher weitergegeben wurden, protestierten und streckten die Ärmchen nach ihr aus. Früher hatte sie ihre Liebe so großzügig verteilt wie die Teller mit Brot oder Reis zum Abendessen. Sie hatte offenbar einen unerschöpflichen Vorrat an Zuneigung gehabt. An ihrem Busen suchten sie Trost, in ihren wiegenden Armen fanden sie Linderung ihres Leids.
    Aber das war, bevor die Zahl der Kinder so stark angewachsen war. Jetzt waren sie nicht mehr wie eine Familie. Henok war sich nicht sicher, ob Haregewoin überhaupt noch die Namen aller Kinder kannte. Sie rief sie stattdessen mit einheitlichen Kosenamen: die kleinen Jungen Mamoosh , die Mädchen Mimi .
    Anfangs hatte Henok unter all den Neuankömmlingen gelitten, und noch mehr darunter, welche Freundlichkeit Haregewoin ihnen gegenüber zeigte. Sie wusch die verwahrlosten, stinkenden, namenlosen Kinder mit derselben Zärtlichkeit und denselben beruhigenden Worten wie ihn damals, als er neu war und aus dem Schuppen am anderen Ende der Straße hergezogen war. Sie wickelte kranke, wimmernde Babys in ihr Tuch und nahm sie mit in ihr Bett.
    Henok schrieb das der Tatsache zu, dass Mütter seltsam waren.
    Und gerade als er dachte, er könne es nicht mehr ertragen, ihre Liebe mit noch jemandem zu teilen, veränderte sich ihr Verhalten. Irgendwie befand sich Haregewoin auf dem Rückzug; sie lebte mitten unter ihnen, steckte überall ihre Nase hinein, bellte Befehle, hob Kleinkinder an den Achseln in die Höhe und setzte sie ein paar Meter weiter wieder ab; aber von ihrer großmütterlichen, verschmitzten Freundlichkeit war auf einmal nichts mehr zu spüren.
    Da fing Henok an, sich nach einer neuen Mutter umzusehen. Er seufzte und wartete, seine glatte Stirn legte sich in Falten, ein kleiner Wachtposten mit einem Auftrag von allergrößter Wichtigkeit.
     
    Und eines Tages kam sie.
    Sie steuerte das Auto schwungvoll in die Einfahrt, wo sie den Motor abstellte. Kein Taxi, ihr eigenes Auto. Sie trug ein Strickkleid mit einer passenden kurzen Jacke, die aus matten und glänzenden blauen und schwarzen Fäden gewebt war. Sie war Ende vierzig, mollig und hatte ein großes, offenes, freundliches Gesicht, die bräunlichen Haare waren locker hochgesteckt. Als sie Haregewoin erblickte, lachte sie laut und fing schon an zu sprechen, bevor sie aus dem Auto ausgestiegen war. Sie redete anders als all die anderen Frauen, die Henok bisher reden gehört hatte; lauter, lebhafter; er verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Egal - er wusste sofort,

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