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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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wen er da vor sich hatte.
    Wie der Portier in einem eleganten Hotel näherte er sich ihr höflich und bot ihr seine Hand. »Was für ein süßer kleiner Fratz!«, rief die mollige Frau. Ohne nachzudenken, nahm sie seine Hand. Er lief mit hüpfenden Schritten neben ihr her, damit er ihre Hand nicht loslassen musste. Als sie eine große schwarze Tasche über ihre Schulter schwang, duckte er sich, damit er nicht von ihr getroffen wurde. Sie war sein Passierschein für Haregewoins Wohnzimmer - normalerweise ernteten die Kinder einen missbilligenden Blick, oder sie drohte ihnen mit dem Zeigefinger, falls sie es wagten, hereinzukommen, wenn gerade Besuch da war. Er eilte neben seiner neuen Mutter im Laufschritt zu dem niedrigen Sofa. Ihre Hand löste sich aus seiner, um ihren Rock glatt zu streichen, und er nahm neben ihr Platz, sein Bein an ihr Bein gepresst, und ließ seine Hand rasch wieder zwischen ihre Finger gleiten.
    Was sie sagte, ergab keinen Sinn für ihn, aber ein Wort verstand er ganz deutlich: »Äthiopien.« Das musste ihr Name sein, dachte er, und verliebte sich augenblicklich in sie.
    Sie war Afroamerikanerin aus dem Süden der USA und im Auftrag der Kirche nach Addis Abeba gekommen. Ihr Mann war Geistlicher. Die beiden waren erschrocken über die Tausende obdachloser Kinder, die sich auf den Straßen herumtrieben, und wollten helfen, vielleicht sogar ein Kind adoptieren.
    »Der hier ist reizend! Wie heißt er?«, fragte sie irgendwann und setzte sich Henok auf den Schoß, als wäre er noch ein Kleinkind.
    »Das ist Henok«, sagte Haregewoin und lachte, weil Henok solches Glück hatte, und sie schüttelte den Kopf, weil er sich so dumm verhielt. Er behielt seine würdevolle Haltung bei, obwohl er gerade gedrückt und geknuddelt wurde.
    »Erzählen Sie mir bitte alles über Henok«, sagte die neue Freundin.
    Er wäre sofort mit ihr mitgegangen.
    Als sich die Frau, die nicht wirklich Äthiopien hieß, nach dem Kaffee und endlosem Gerede und lautem Lachen erhob, erhob er sich auch. Da gab es etwas, das er vielleicht rasch holen sollte - er hatte einen geschnitzten Holzkreisel mit einer Schnur unter dem Kissen des Doppelbetts versteckt, das er mit drei anderen Jungen teilte -, aber dann überlegte er es sich anders. Es war wohl besser, Äthiopien nicht von der Seite zu weichen, damit sie nicht etwa ohne ihn wegfuhr.
    Er lief schnell neben ihr her und stand wachsam an ihrer Seite, als sie die Autotür öffnete. Er suchte ihre Miene nach einem Zeichen ab.
    Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, stieg ein, zog die Tür zu und ließ das Fenster herunter, um sich zu verabschieden. Henok sah sich verzweifelt nach Haregewoin um.
    »Was halten Sie von meinem kleinen Freund Henok?«, fragte Haregewoin.
    »Er ist ein Schatz!«, sagte die Frau. »Ich werde mit meinem Mann darüber reden. In Ordnung, kleiner Kerl?«, sagte sie und nahm unvermittelt sein Gesicht in die Hand. Er nickte, ohne etwas verstanden zu haben.
    »Also dann!«, rief sie.
    Er trat zu Haregewoin, als die Frau wegfuhr. Haregewoin legte ihren Arm um seine Schulter und sagte lächelnd: »Sie wird ihren Mann deinetwegen fragen.«
    Und er freute sich.
     
    Henok hatte gedacht, dass er alle anderen ausgestochen hatte, aber das stimmte nicht. Eines der älteren Mädchen, eine fünfzehnjährige Waise, hatte Kaffee serviert, einen höflichen Knicks gemacht und Orangenspalten herumgereicht. Als Haregewoin sie gebeten hatte, ein paar Unterlagen aus ihrem Aktenschrank zu holen, hatte sie sie ihr mit einem Lächeln und ein paar Worten auf Englisch überreicht. »Sie spricht Englisch!«, hatte die Amerikanerin überrascht gesagt.
    »Aber ja, sie ist eine ausgezeichnete Schülerin«, sagte Haregewoin. »Sie hat die achte Klasse abgeschlossen.«
    Henok hatte währenddessen die Hand seiner neuen Mutter fest umklammert gehalten.
    Einige Tage darauf hatte die Amerikanerin Haregewoin angerufen, um mit ihr über das Mädchen zu sprechen. Es wurden die nötigen Vorkehrungen getroffen, damit das Mädchen in die Wohnung des amerikanischen Geistlichen und seiner Frau ziehen konnte; wenn es ihr dort gefiel und alle mit dem Arrangement zufrieden waren, würden sie bei den äthiopischen Gerichten einen Antrag auf Adoption stellen und bei der amerikanischen Botschaft ein Visum beantragen, für den Tag, an dem sie endgültig in die Vereinigten Staaten zurückkehrten.
    Als die Frau, die für ihn Äthiopien hieß, eine Woche später wiederkam, war Henok so aufgeregt, dass er

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