'Alle meine Kinder'
äthiopischen Strohhütte diente als Bar mit Grillbetrieb, und in einer kleineren Hütte konnte man sich weiche weiße Handtücher holen. In dieser noblen Umgebung sahen die beiden Hütten allerdings eher nach Südsee als nach Äthiopien aus. Die Reflexe des sprudelnden Wassers tanzten auf den blauweiß gestreiften Sonnenschirmen, und Kellner im Frack brachten den in die dicken Handtücher gewickelten Gästen eisgekühlte Drinks.
Rick Hodes, den stets eine Duftmischung aus Chlor, Saunadampf und Aftershave umwehte, sah immer ausgeruht und frisch geduscht aus. Sein weißes Hemd machte den Eindruck, als habe er eben erst die Nadeln und das Seidenpapier entfernt, mit denen es von der Reinigung geliefert worden war, und seine Khakihose hatte messerscharfe Bügelfalten. Er schien kaum Schlaf zu brauchen. Seine Freunde in den USA erhielten um zwei, vier und sechs Uhr morgens Ortszeit in Addis Abeba E-Mails von Hodes und stellten sich vor, wie er in seinem schlichten Schlafzimmer im Schneidersitz auf dem zerwühlten Bett saß, umgeben von Stapeln medizinischer Fachzeitschriften und Entwürfen zu Artikeln, und sich über seinen Laptop beugte.
Hodes sprach mit Tenorstimme, die jedoch entschlossen klang, wie auch in seinem freundlichen Blick hinter dem metallenen Brillengestell etwas Entschlossenes lag und den mageren, weißen Armen eine drahtige Kraft innewohnte. Die glatt zurückgekämmten, dünnen braunen Haare gerieten jedes Mal in Unordnung, wenn er sich mit einer energischen Bewegung sein Stethoskop umhängte. Während eines Gesprächs wurden seine Augen größer wie die eines ernsten Jungen, dem man einen Chemiebaukasten präsentierte.
Hodes lebte mit seiner Familie - fünf äthiopischen Adoptivsöhnen und mindestens einem halben Dutzend inoffizieller Pflegesöhne - in einem langgestreckten großen Haus, das hinter hohen Mauern an einer asphaltierten Straße in einem Wohnviertel von Addis Abeba lag. Auf den Sofas und Sofatischen aus den sechziger Jahren stapelten sich Bücher und Papiere, und überall auf dem staubigen Dielenboden lagen Turnschuhe, Fußbälle, Roller und Krücken herum. Jungen in den verschiedensten Stadien der Rekonvaleszenz humpelten durch das Haus. Einige hatten Krebs, viele Knochentuberkulose. Wenn Knochentuberkulose nicht behandelt wird, ist sie eine zerstörerische Krankheit; die Wirbelsäule wird so stark beeinträchtigt, dass das betroffene Kind bleibende Schäden behält, die es auf Dauer ans Bett fesseln und ihm ständig Schmerzen bereiten. Rick war auf der Straße über diese Kinder gestolpert, wo sie gekrümmt dalagen und auf den Tod warteten; seinen Sohn Mesfin entdeckte er auf der Erwachsenenstation eines Armenhospitals - ein Junge mit strahlenden Augen, der zwischen den überfüllten Betten herumsprang und offenbar zu niemandem gehörte. Zwischen vierzig und fünfzig äthiopische Kinder und Erwachsene hatte Hodes in die USA und nach Israel geschickt, damit sie dort eine medizinische Behandlung erhielten, die in Äthiopien für sie nicht zugänglich war. Es gab keine Mrs. Hodes, auch wenn die Jungen gelegentlich ihren Unmut darüber bekundeteten. Sie wussten, dass Hodes sich in Israel mit Frauen traf. Er hatte ihnen wiederholt erklärt, warum er bislang immer ohne Frau zurückgekommen war: »Ich muss der Frau doch sagen, dass sie nicht nur den netten Dr. Hodes bekommt, sondern den netten Dr. Hodes und einen ganzen Stall voller afrikanischer Jungs.«
Ein anderes Mal sagte er: »Eine Frau muss erst ein paar Mal mit euch ausgehen. Wenn das gut geht, dann treffe ich mich mit ihr.«
Der vierzehnjährige Temesgen, einer der inoffiziellen Pflegesöhne, stammte aus einem entlegenen Dorf und war der einzige überlebende Sohn seiner Mutter. Sie hatte acht Kinder zu Grabe getragen. Hodes hatte den orthodoxen Jungen in einem Armenhospital kennengelernt und den Tumor an seinem Knie als Osteosarkom (ein bösartiger Knochentumor) diagnostiziert. Er vereinbarte für Temesgen im Alert-Krankenhaus einen Termin bei einem Chirurgen, der den Unterschenkel des Jungen amputierte; danach nahm Hodes ihn mit zu sich nach Hause, um ihn einer Chemotherapie mit sechs Behandlungszyklen zu unterziehen.
Am selben Tag und im selben Krankenhaus lernte Hodes den elfjährigen Mohammed, einen Muslim aus Bale, kennen. Mohammed hatte einen identischen Tumor, allerdings am linken Knie. Hodes traf die nötigen Vorkehrungen für eine entsprechende Operation und unterzog ihn derselben Chemotherapie. Die beiden Jungen
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