'Alle meine Kinder'
nicht wusste, wohin er als Erstes rennen sollte, und so lief er los, um seinen Kreisel zu holen, und steckte ihn in seine Hosentasche. Er setzte sich neben die Amerikanerin, blickte glückstrahlend zu ihr hoch, streichelte ihre Hand und musterte sie eingehend. Er grinste Haregewoin an. Haregewoin schüttelte leicht den Kopf, aber er achtete nicht auf ihre Warnung.
Als die Zeit zum Aufbruch gekommen war, war er bereit! Er stand auf der Fahrerseite an der hinteren Tür, die Hand am Griff, und wartete auf ein Zeichen. Auf der anderen Seite umarmten sich alle und wünschten sich gegenseitig das Beste, dann kletterte das Mädchen auf den Beifahrersitz. Äthiopien ging zur Fahrertür, öffnete sie, setzte sich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel um.
»Mama?«, sagte Henok versuchsweise.
»Auf Wiedersehen! Wünscht uns Glück!«, rief die Amerikanerin, und dann fuhr das Auto weg.
»Sie hat mich wieder vergessen!«, rief Henok. Er floh in sein Bett und vergrub das Gesicht im Kissen.
»Sie mag dich«, tröstete Haregewoin ihn, setzte sich neben ihn und streichelte seinen Rücken, während er schluchzte. »Aber sie haben das Mädchen adoptiert; ich glaube nicht, dass ihr Mann ein zweites Kind will.«
34
Ababu wurde immer schwächer.
Mit drei Jahren war das Kind, das von seiner Großmutter, der Holzsammlerin, hier abgegeben worden war, kleiner als die Säuglinge, mit denen er sich ein Gitterbett teilte. Morgens fand Haregewoin ihn zusammengerollt und mit nasser Windel in einer Ecke des Betts, von wo er sie mit riesigen, traurigen Augen anschaute, während seine mageren Finger die Stäbe des Gitterbetts umklammerten. Das Gewicht seines Lächelns, wenn Haregewoin ihn holen kam, belastete seinen unverhältnismäßig großen kahlen Kopf derart, dass er nach vorn sank.
»Du bist mein Schätzchen, nicht wahr?«, sagte sie und streckte ihm einen Arm entgegen, an dem er sich festkrallte und mühsam hochkletterte, um sich an ihre Brust zu legen. Erschöpft lehnte er seinen Kopf an ihre Schulter.
In letzter Zeit konnte er ihren Arm nicht mehr hochklettern. Er konnte kaum noch den Kopf heben.
Nein! , dachte sie. Nicht dieses Kind auch noch. Bitte, lieber Gott, nimm mir Ababu nicht.
Sie wollte, dass ein Arzt sich Ababu ansah, aber sie kannte keinen Arzt.
Es war auch nicht leicht, einen Arzt zu kennen. Im Jahr 1999 kamen in Äthiopien auf einen Arzt 48 000 Einwohner, das war das schlechteste Verhältnis weltweit. 2003 war das Verhältnis von einem Arzt für 34 000 Einwohner immer noch fünf Mal schlechter als im übrigen Schwarzafrika. (In den USA kommen auf jeden Arzt etwa 142 Patienten.)
Aber Haregewoin wollte unbedingt, dass sich ein Arzt Ababu ansah.
Der Arzt, den sie schließlich fand, gehört zu den bemerkenswertesten Menschen in ihrem Leben.
Sie lernte einen Mann kennen, der alle Angebote, sich ein Leben in Wohlstand und fern einer Welt des Leidens und Sterbens einzurichten, ausgeschlagen hatte. Gesund und von keinerlei finanziellen oder beruflichen Vorteilen gelockt, begab er sich in die Katastrophengebiete dieser Welt (Ruanda, Somalia, Albanien, Sudan, Zaire, Tansania, Lesotho und Äthiopien), weil er irgendwie das Gefühl hatte: »Hier werde ich gebraucht.«
Er stammte aus den USA. Hier war er bekannt wie ein bunter Hund. Es hieß, er behandele jeden, der zu ihm kam, egal, ob er zahlen konnte oder nicht, egal, um welche Tages- oder Nachtzeit.
Sein Name war Rick Hodes, geboren 1953 auf Long Island in der Nähe von New York. Soweit er wusste, war er der einzige gläubige nichtäthiopische Jude zwischen Jerusalem und Nairobi. Er war der medizinische Leiter der Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), das sich um die äthiopischen Juden, die Beta Israel, kümmerte. Nebenher behandelte er unentgeltlich noch Hunderte von Patienten in Armenhospitälern und armseligen Hüttensiedlungen in ganz Addis Abeba. Er lebte schon seit fast zwanzig Jahren in Äthiopien und sprach fließend Amharisch.
Er war blass, nicht besonders groß und hatte die schlanke Statur eines Schwimmers. Er war Mitglied im Fitnessclub des Sheraton Addis. Das im Stil eines italienischen Palazzo gehaltene Hotel auf einem der Hügel beherrschte die Skyline der Stadt. Jeden Tag fuhr Hodes von den Slums hier hoch, zog sein Hemd und seine Hose aus, legte seine Nickelbrille ab und sprang in den beheizten Swimmingpool, in dem unter Wasser Musik gespielt wurde, und schwamm anderthalb Kilometer. Die Nachbildung einer
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