'Alle meine Kinder'
weniger als drei oder vier Kinder in der dunklen, stinkenden Latrine, in ihrem Bett krabbelten Kinder herum, und zu den Mahlzeiten teilten sich je zwei einen Stuhl und Teller und Becher; sie mochte gar nicht daran denken, wie viele Kinder gemeinsam eine Zahnbürste benutzten; es wurde nicht mehr unterschieden zwischen Mädchen- und Jungenkleidung, sie gehörte allen, und inzwischen hatten die Sachen eine gelblich graue Färbung vom Staub und vom ständigen Tragen angenommen. Sie kannte nicht mehr alle Namen und das Alter der Kinder und wusste weder, wann sie gekommen waren, noch, woher sie stammten.
Wenn sie nach etwas die Hand ausstreckte, das sie ihr Eigen nannte - wie jemand, der im Dunkeln in einer Schublade kramte und den gesuchten Gegenstand zu ertasten versuchte -, dann war es noch immer Menah, das erste ausgesetzte Baby, das ihr die Polizei gebracht hatte. Die Kleine wurde mit jedem Tag runder und fröhlicher; Milchzähnchen schimmerten in ihrem Mund, wenn sie lachte; oben auf ihrem Köpfchen ringelte sich eine Locke. Sie nannte Haregewoin Maye , Mama, und war zufrieden mit der Welt.
Manchmal, wenn Menah in ihrem Kinderbettchen zwischen anderen Babys und Kleinkindern eingeschlafen war, schlich Haregewoin zu ihr und holte sie.
Man sollte annehmen, dass Haregewoin sich von Zeit zu Zeit nach etwas Einsamkeit in ihrem Bett sehnte, nach einem der seltenen Momente des Friedens und der Stille, wenn ausnahmsweise keine Kinder bei ihr schliefen.
Aber sie fürchtete die Einsamkeit noch immer, die existenzielle und endlose Dunkelheit von Workus Tod und Atetegebs Tod und ihrem eigenen Tod, der irgendwann kommen würde.
Und so drückte sie das schwere, warme, süße Kind an ihre Brust und ging mit ihm zurück in ihr Bett.
Nach wie vor bettelten die Kinder in der Straße lautstark um Einlass. Tag und Nacht klopften zerlumpte, freche Kinder mit lachenden schwarzen Augen an das Metalltor und baten darum, hereingelassen zu werden.
»Geht weg! Sch!«, rief Haregewoin ärgerlich und klatschte in die Hände. Sie stoben in einer Staubwolke auseinander und hockten sich in der Nähe auf einen unkrautüberwucherten Steinhaufen. Wenn sie zurück in den Hof ging, kletterten sie wieder herunter, rannten zum Tor und klopften erneut. Wenn ein Auto in den Hof fuhr, duckten sich die Kinder und versuchten, hinter dem Wagen unbemerkt hineinzuschlüpfen.
Haregewoin dachte, sie würde alle Tricks kennen, aber dann stellte sie fest, dass sie einem der Kinder auf den Leim gegangen war.
Eines Tages wurde eine kleine, ordentliche Frau bei Haregewoin vorstellig. Mit ihrer hellen Stimme sprudelte sie hervor: » Waizero , ich wollte fragen, ob Sie in Ihrem Haus vielleicht Hilfe brauchen können? Ich kann kochen, waschen, sauber machen und auf die Kinder aufpassen.« Wie ein Spatz hüpfte sie dabei auf winzigen Füßen auf der Straße hin und her. Sie hatte ein leuchtendes, spitzes kleines Gesicht. Sie sprach so schnell, dass Haregewoin einen Moment brauchte, um zu verstehen, was sie gefragt hatte.
»Ich brauche immer Hilfe«, seufzte sie, »aber ich kann nichts zahlen.«
»Ich will für meine Hilfe nur so viel zum Essen, dass ich satt bin«, fuhr Tigist mit der gleichen Geschwindigkeit fort. »Sie kommen doch schon für meinen Sohn auf, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin!«
»Wie heißt Ihr Sohn denn?«, fragte Haregewoin überrascht.
»Henok!«
»Ach. Kommen Sie doch bitte herein!«
»Das hast du mir nie erzählt, Henok«, sagte Haregewoin zu ihm, nachdem sie Tigist aufgefordert hatte, in ihrem Wohnzimmer Platz zu nehmen. »Warum suchst du eine neue Mutter, wenn du eine so nette Mutter hast?«
»Weil ich meiner Mutter helfen will!«, sagte der Junge. »Wenn mich eine neue Familie bei sich aufnimmt, bin ich reich. Dann habe ich Geld und kann meiner Mutter zu essen geben. Und ich kann ihr ein Haus kaufen!«
Henoks Mutter nickte wehmütig. »Ich kann ihm nichts bieten«, sagte sie.
»Sind Sie krank?«, fragte Haregewoin leise.
»Nein!«, sagte die Frau forsch. »Ich bin geschieden, ich bin gesund.«
Henok, der Junge mit dem geschorenen Kopf und den klugen Augen, der auf der Suche nach einer finanzkräftigen neuen Mutter war: Er hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren! Er hatte als einziger von den Gassenkindern aus der Nachbarschaft Haregewoin davon überzeugt, dass er ein neues Zuhause brauchte, und sie hatte es ihm gegeben.
»Henok«, sagte Haregewoin, noch immer verwundert. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Er
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