'Alle meine Kinder'
Haregewoin in das Taxi. Von ihren Eltern hatte sie einmal viel Liebe erfahren, und sie ging davon aus, dass Liebe (und vielleicht auch das eine oder andere Eis) sie erwartete.
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Chaltu, Mädchen, acht Jahre alte Waise, erste Klasse.
Biniam, zweijähriger Junge, Mutter und Vater tot, vom kebele geschickt.
Hana, Mädchen, acht Jahre, erste Klasse.
Tariqua, Mädchen, zehn Jahre, vom kebele gebracht.
Hailegabriel, vierzehn, Neuntklässler, Mutter und Vater gestorben.
Ein knochiger, dunkelhäutiger Junge von dreizehn Jahren traf ein. Sein kleiner, rasierter Kopf saß weit oben auf den schmalen Schultern über einem schlanken Rumpf und langen Beinen. Er war von einem Eselskarren geklettert, auf dem er wer weiß wie viele Tage durchs Land gefahren war. Höflich begrüßte er alle in einer Sprache, die keiner verstand. Er ging davon aus, auf dem Boden zu schlafen, und war überrascht, als man ihm die Gelegenheit bot, sich mit drei anderen Jungen zusammen ein Bett zu teilen. Er war schnell und stark; er konnte schnitzen, und er war geschickt im Knüpfen von Knoten. Während er seine Arbeit verrichtete, murmelte er leise vor sich hin, ein unaufhörlicher Monolog. Nachts sang er sich selbst in den Schlaf, und noch bevor er morgens ganz wach war, bewegten sich seine Lippen schon wieder. Vielleicht stammte er aus dem Volk der Nuer an der Grenze zum Sudan? Er konnte kein Amharisch, die Sprache der Amhara und die Amtssprache in Äthiopien, wobei Äthiopien ein Land mit vierundachtzig lebenden und fünf toten Sprachen ist, darunter auch einige alte Kirchensprachen. Der Junge reagierte nicht, wenn ein Besucher ihn auf Oromo, Gurage, Somali, Tigrinya, Harari oder Arabisch ansprach, er legte nur den Kopf schief und lächelte artig.
Haregewoin nahm ihn mit zum Mercato, suchte einen Platz inmitten der Händler und Käufer und bedeutete ihm, seine Stimme zu erheben. Jemand schnappte im Vorbeigehen den Klang oder den Rhythmus auf und kam zu dem Schluss, dass der Junge die Geschichte von Generationen seiner Vorfahren sang.
Man hatte ihm ganz offensichtlich beigebracht, die Mythen, die Legenden, die Genealogien endlos zu wiederholen, sie in sein Gedächtnis einzugraben, bis er selbst sie an die nächste Generation weitergeben konnte.
Aber nun war der Junge von seinen Eltern, den Dorfältesten, den Lehrern und weisen Männern abgeschnitten - von seinem Volk. An wen sollte er die Tradition weitergeben? Einen solchen Verlust erfasste keine Statistik.
Der Junge freute sich, als er einen verschlissenen braunen Pulli bekam und mit den anderen Kindern die Schule besuchen durfte. Eines Abends hörte Haregewoin, was der Junge sich jetzt im Bett vorsang: Es war das fidele , das amharische Alphabet. Die Geschichte und die heiligen Legenden seines Volkes, die so sorgsam im Archiv des Gedächtnisses des klugen Jungen verwahrt worden waren, begannen zu verblassen.
Innerhalb der vier Wellblechwände von Haregewoins Hof ging es immer wilder und chaotischer zu, und die Unzufriedenheit wuchs. Ständig, zu jeder Tages- und Nachtzeit, weinte eines der Kinder.
Die Erwachsenen wurden langsam taub dagegen.
An einem Tag schrie eine Einjährige lang und laut im Säuglingszimmer; das kleine Mädchen war gefüttert, angezogen und in einen Kinderwagen gesetzt und dann dort vergessen worden.
An einem anderen Tag war das laute Kreischen eines Kleinkinds zu hören, das draußen auf dem Töpfchen saß. Ein streunender Hund, den die Kinder adoptiert hatten, wollte mit dem Mädchen spielen; er sprang an ihm hoch und zerkratzte ihm die bloßen Schenkel. Sie schrie voller Angst, ohne sich von der Stelle rühren zu können, aber keiner kam ihr zu Hilfe.
Befekadu, acht, von einem Nachbarn gebracht.
Dawit, zehn, von seiner HIV-positiven, kranken Mutter gebracht.
Dagmawit, vier, vom Vertreter des kebele in seiner Straße gebracht.
Die Brüder Daniel, zehn, und Yosef, sieben, von ihrem Onkel gebracht, nachdem beide Eltern gestorben waren. Der Onkel ist zu arm, um sie zu behalten, weil er sich schon um andere verwaiste Nichten und Neffen kümmert.
Die Absicht, das Andenken Atetegebs mit diesem nach ihr benannten Kinderheim zu ehren, konnte sie vergessen. Wer sollte hier etwas ehren? Wer sollte etwas denken oder fühlen?
Haregewoin hatte keine Sekunde Zeit für sich; überall waren Kinder, wohin man auch blickte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wimmelte es hier wie in den Straßen von Addis Abeba vor Menschen. Egal, zu welcher Stunde, es kauerten niemals
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