'Alle meine Kinder'
vierzig Großmutter«, sagte Haregewoin.
»Bei uns herrscht Kindermangel. In ganz Europa sinken die Geburtenraten. Schulen schließen ihre Pforten. Wegen der Verhütungsmittel und Abtreibungen werden auch nicht mehr so viele uneheliche Kinder geboren, und wenn, dann behalten viele junge Frauen ihre illegitimen Kinder. Früher bekam ich solche Kinder zur Adoption, aber heutzutage ist das keine Schande mehr.«
Haregewoin, die sich im Osten eines Kontinents befand, der von Kindern überquoll, fand die Vorstellung eines vor allem von Erwachsenen besiedelten Landes befremdlich. Sie stellte sich imposante Straßen, blitzende Läden, akkurat geschnittene Hecken und biedere Fußgänger in Mantel und Hut vor. Und leere Schulhöfe und Parks. Warum sollten Frauen in einem öden Land, die sich nach Kindern sehnten, ihre Arme nicht nach einem heißen, südlichen Kontinent ausstrecken, der einen Überschuss an Kindern hatte?
Äthiopien wiederum gingen langsam infolge von Armut, Dürre, Hungersnöten, Tuberkulose, Malaria, HIV/Aids, Autokratie, Grenzstreitigkeiten und Krieg die Erwachsenen aus.
Ihr erschienen beide Seiten der Gleichung gleichermaßen traurig: ein kinderloses europäisches Paar, das sich nach einem Baby, selbst einem äthiopischen Baby, sehnt; und ein äthiopisches Baby, das willig seine Arme nach Erwachsenen, selbst Weißen, ausstreckt, Amaye?, Abaye? denkt, begierig darauf, sich von Eltern prägen zu lassen wie ein Entenküken, das dem ersten Objekt, das sich bewegt, folgt.
»Ja, bitte, es wäre mir eine Ehre. Bitte.« Haregewoin deutete auf die Babys.
Es war, als würde jemand eine Blume aus einem duftenden Garten mit Begonien, Gardenien, Rittersporn, Flieder pflücken. Die agile kleine Frau aus Malta beugte sich vor, tauchte ein in das Sonnenlicht über den Lockenköpfchen. Summend wie eine Honigbiene näherte sie sich den Kindern. Es war wie in einem Märchen, gleich würden Zufall und Glück eine dieser unglücklichen Waisen treffen. Sie streckte die Arme nach einem fünfzehn Monate alten Mädchen aus, dessen Gesicht vom Schlaf gerötet war. Es war Menah. Haregewoin machte einen Satz nach vorn, packte das Kind, legte es sich über die Schulter und bedeutete der Frau, sich die anderen noch einmal genauer anzusehen. Gerade noch! , dachte sie, und spürte das angstvolle Klopfen ihres Herzens, das noch andauerte, nachdem sie das Mädchen an sich gerissen hatte.
»Wer ist denn dieser kleiner Teddybär?«, fragte die Frau und rollte einen kleinen Jungen sanft auf den Rücken.
»Er heißt Abel.«
»Wie alt?«
»Fünf, sechs Monate. Ich hole seine Akte.«
Die Frau nahm das Baby hoch, spielte mit seinen zarten Fingerchen, drehte es hin und her, fühlte, ob es nicht zu mager war. Abel wachte auf, blinzelte und wand sich, um ihrem Griff zu entkommen. Sein Hintern hinterließ einen feuchten Fleck auf ihrer Bluse.
»Darf ich ihn nehmen?«
»Sie müssen für ihn eine sehr gute Familie finden, er ist ein sehr lieber Junge.«
»Die beste, das verspreche ich Ihnen«, sagte die kleine Frau, legte den Jungen zurück und beugte sich vor, um ihn auf die Stirn zu küssen. Seine runden Frotteefüßchen schwebten über seinem Bauch in der Luft. Die Frau streckte ihre Hand mit den spitzen Fingernägeln aus und drückte beruhigend Haregewoins Arm. Abel drehte sich auf den Bauch und begab sich auf die Flucht, robbte über seine Bettgenossen hinweg, und die beiden Frauen lachten.
Die komplizierte, schuldbehaftete Geschichte des Reichtums der nördlichen Halbkugel und der Verzweiflung der südlichen reduzierte sich plötzlich auf einen sonnigen Vormittag am Horn von Afrika, ein heißes, unaufgeräumtes Zimmer und zwei kleine, ergrauende Witwen (ein wenig leidend, ein wenig zu alt, ein wenig zu verwirrt für diese Sache), verantwortlich für ein ganzes Bett voller mutterloser Babys.
Die Frau aus Malta mit dem graumelierten Jungenhaarschnitt legte Abel in ein Nest aus Decken auf den Rücksitz ihres Autos. Am gleichen Abend rief sie an und sagte, dass das Baby bei den Franziskanerinnen sei; sie würden sich um ihn kümmern und alles Nötige wegen seiner Papiere in die Wege leiten. Sie selbst wollte bald heim nach Malta fliegen und hoffte, in den zwei Monaten, bis sie wiederkam, eine Familie für Abel gefunden zu haben.
Haregewoin erfuhr, dass Adoptionsagenturen aus mindestens einem Dutzend Ländern Büros in Addis Abeba unterhielten. Einige hatten auch eigene Waisenhäuser und Kinderheime eingerichtet. Sie stellten
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