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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Tasche steckte er ein kleines Mitbringsel - einen Fettstift für die Lippen, ein Muskelrelaxanz, Hustensaft. Wenn er darum gebeten wurde, beugte er sich über die Brust eines Mannes und horchte ihn ab.
    »Hodes«, krächzte einer in gebrochenem Amharisch, »meine Frau krank.«
    Hodes wusste, dass der Mann Oromo sprach, die Sprache der dreißig Millionen Oromo und damit der größten ethnischen Gruppe in Äthiopien. »Sie soll mich anrufen, Bekila«, sagte Hodes. »Wissen Sie meine Nummer?«
    »Nein.«
    »Hier«, sagte Hodes und schrieb sie auf ein Blatt seines kleinen Notizblocks, riss es heraus und reichte es dem Patienten.
    » Gelaytoe-minh , danke«, sagte der Mann auf Oromo. » Negatie , auf Wiedersehen.«
    » Ree-behn-senh-nn-fakoni «, erwiderte Hodes den höflichen Gruß, einige der wenigen Worte auf Oromo, die er beherrschte.
    Zufrieden ließ sich Bekila zurücksinken. Er hatte etwas vollbracht an diesem Tag, etwas Gutes. Er hatte für seine sterbende Frau Hilfe gefunden.
    Bevor Hodes den Saal durch die Tür am anderen Ende verließ, rief er den Männern noch etwas auf Amharisch zu, was mit allgemeinem Gejohle und Gelächter beantwortet wurde.
    »Gute Nachrichten, was das heutige Mittagessen angeht!«, rief er. »Ich hab gehört, es gibt köstliches assama und jib - Schweine- und Hyänenfleisch.«
    Beides durften Muslime und äthiopische Christen nicht essen.
    Noch eine ganze Weile hörte man das Kichern der kranken Männer.
     
    In einer Welt, in der einem Arzt wegen des Mangels an Medikamenten die Hände gebunden waren, war die gute Nachricht über Ababus Gesundheitszustand natürlich besonders erfreulich.
    Ababu saß auf Haregewoins Schoß und nuckelte an der Flasche mit Sojamilch, als wüsste er, dass es um sein Leben ging. Als die Nacht anbrach, sah sein Gesicht schon ein wenig runder aus und seine Augen wirkten weniger eingesunken, fand sie. An einem der nächsten Morgen stellte Haregewoin fest, dass er in seinem Kinderbettchen saß und auf sie wartete. Am nächsten Tag begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln und warf sich in ihre Arme. Gegen Ende der Woche konnte er gehen; am Ende der folgenden Woche rannte er und lachte dabei laut, die Erinnerung an sein vorheriges Leben als Leidender war vergessen.
    Es war nicht immer Aids daran schuld, wenn ein Kind in Äthiopien starb. Da es viel zu wenige Krankenhäuser, Ärzte und Krankenschwestern gab, starben tagtäglich Kinder an ganz unspektakulären Dingen wie Diarrhö und Dehydration. Ababu wäre wegen einer Milchallergie beinahe verhungert. Die Diagnose wäre dieselbe gewesen, wie wenn er an Aids gestorben wäre: die extreme Armut seiner Familie, die Armut seines Landes, die fehlgeleiteten Mittel seiner Regierung, die fehlgeleiteten Mittel der Welt.
    Zum Dank steckte Haregewoin ein Foto in einen Umschlag und schickte es an Hodes. Auf dem Bild trug Ababu einen Strampelanzug, die Arme voller Spielzeug. Das Foto war unscharf, weil der kleine Junge so schnell rannte, dass die Kamera ihn nicht einfangen konnte.
    Aber nicht alle Nachrichten aus der Klinik waren an diesem Tag gut. Kidist, das fröhliche kleine Mädchen, war positiv auf HIV/Aids getestet worden.
    Die Mutter-Teresa-Schwestern hatten ein neues Haus für Kinder mit HIV/Aids in Addis Abeba eröffnet. Haregewoin legte sich ins Zeug, und nach vielen Telefonaten und Bitten und Betteln wurde Kidist schließlich aufgenommen. Wenn irgendjemand in diesem Land antiretrovirale Medikamente für Kinder auftreiben konnte, dann waren es die Schwestern von Mutter Teresa.
    Das neue Waisenhaus mit den niedrigen Sandsteingebäuden auf grünen Rasenflächen wirkte wie eine elitäre Privatschule. Es gab bunt angemalte Wippen und einen Tischtennistisch. Aber die Organisation verfügte genauso wenig wie ENAT oder Haregewoin über Aids-Medikamente und hatte auch keine Aussicht, welche zu bekommen. Niemand in ganz Äthiopien hatte Zugang zu pädiatrischen Aids-Medikamenten. Die Schwestern konnten die opportunistischen Infektionen von Aids bei den Kindern behandeln. Darüber hinaus bestand ihre Rolle darin, dafür zu sorgen, dass die Kinder einen möglichst sanften Tod hatten.
    Kidist blies überrascht die Wangen auf, als sie hörte, dass sie umziehen sollte; dann nahm sie es als ein weiteres Abenteuer. An dem Tag, an dem das Taxi kam, um sie abzuholen, trug sie eine Plastikgeldbörse an einer langen Kette über der Schulter. In der Börse war ein Zahn, den sie verloren hatte. Voller Vorfreude kletterte sie neben

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