'Alle meine Kinder'
in Tränen auszubrechen, und dem Kind ging es wahrscheinlich genauso. Wenn man Waisenkindern irgendwo auf der Welt auf Amharisch oder Rumänisch oder Russisch oder Spanisch oder Chinesisch sagt: »Deine Mutter kommt«, glauben die Kinder manchmal, dass ihre leibliche Mutter zu ihnen zurückkehrt. Helen und ihre Mutter Bogalech hatten einander inniglich geliebt. Und an diesem Morgen sagten Leute zu ihr: »Deine Mutter ist da.« Als ich sie aus meiner Umarmung entließ, lief sie auf die andere Seite des Hofs und beobachtete mich aus der Entfernung.
Ich hatte in meinem Rucksack allen möglichen Krimskrams mitgebracht: ein Twister-Spiel und magnetische Dartpfeile und Frisbees und Quietschkissen.
»Ach, bringen Sie lieber keine Quietschkissen mit«, hatten mich einige Leute gewarnt. »Die Äthiopier sind sehr höfliche Menschen; solche Quietschkissen werden ihnen nicht gefallen.«
So höfliche Kinder habe ich noch nie gesehen , hatte ich im Stillen gedacht und ein halbes Dutzend große rote Quietschkissen eingepackt.
Als ich sie an diesem sonnigen, heißen Tag im November 2001 verteilte, hielten die Kinder das Gummispielzeug unbewegt in den Händen und sahen mich verständnislos an. Fröhlich warf ich eines davon auf den Boden und trat darauf. Es gab ein lautes Quietschen von sich. Ich blickte erwartungsvoll auf, aber die Kinder sahen mich nur stirnrunzelnd an. Die Amerikaner müssen etwas kaufen, um so ein Geräusch zu machen? , dachten einige. Und der Blick anderer schien zu sagen: Helens neue Mutter ist verrückt.
Eine Zeitlang standen wir alle unbehaglich herum. Den Kindern gefielen ihre Geschenke nicht. Sie wirkten bekümmert. Selamneh, den ich gerade erst kennengelernt hatte, wäre mir gern zu Hilfe gekommen, aber er verstand mich auch nicht. Was für eine blamable Figur gebe ich hier ab , dachte ich kläglich. Es tat mir weh, das kleine, staubbedeckte Mädchen zu enttäuschen, das ohne eigenes Verschulden jetzt offiziell zu mir gehörte.
Beschämt und verlegen warf ich eines der Quietschkissen auf einen Küchenstuhl, der in der Einfahrt stand, und setzte mich darauf. Es gab einen gewaltiges Pups von sich. Ich sprang auf, als wäre ich zutiefst erschrocken, als wäre es mir peinlich, und ein kleiner Junge prustete los. Er probierte es selbst aus, und zwei andere Kinder lachten. Da verstanden sie es - die Kissen waren etwas zum Quatschmachen -, und auf einmal wollten sich alle Kinder auf die in der Einfahrt verteilten Quietschkissen setzen und sich mit den dabei erzeugten anstößigen Tönen gegenseitig übertreffen. Jetzt war es an den Betreuerinnen, mich bekümmert anzusehen. Von der anderen Seite des Hofs beobachtete mich schüchtern Helen, und dann - als sich unsere Blicke trafen - lächelte sie hinter ihrem auf den Zahn gelegten Finger.
Als Merrily Haregewoins Kinder für den Videofilm fragte: »Was willst du mal werden, wenn du groß bist?« (falls nötig, wurde die Frage von einer Lehrerin übersetzt), erwiderte keines von ihnen: »Ich wusste gar nicht, dass ich mal groß werden würde«, obwohl viele so etwas gedacht haben mussten.
Die Kinder, die seit Monaten in Layla House wohnten, hatten gelernt, auf Englisch knappe, zuversichtliche Antworten zu geben, wie Arzt, Lehrer, Polizist, Architekt oder Koch.
»Ich will ein Auto fahren«, erklärte ein sechsjähriges Mädchen namens Bethlehem vor der Kamera. (Ob berufsmäßig oder zum Vergnügen, führte sie nicht näher aus.)
»Ich will Schauspieler werden!«, rief ein Junge namens Dagmawi. »Ein Schauspieler wie Jackie Chan.«
»Ich will Motorrad fahren!«, schrie ein anderer Junge.
»Wenn ich groß bin, will ich den alten Leuten helfen«, sagte die fröhliche, sommersprossige Mekdes Zawuda. Wie viele der größeren Kinder war sie sich bewusst, dass sie von der Wohltätigkeit anderer lebte, und wollte in der Zukunft unbedingt selbst anderen Menschen helfen.
»Ich will ein Waisenhaus gründen«, sagte die fünfzehnjährige Yemisrach.
»In Amerika will ich lernen, das Wort Gottes zu predigen«, sagte Robel.
Robel sollte in Amerika zu einem rauflustigen kleinen Jungen mit einer großen Begeisterung für Computerspiele, Spider-Man und Baseball werden, in Äthiopien war er nach wie vor der Haushaltsvorstand, der Ersatzvater für seine vier Jahre alte Schwester. »Ich will den Leuten, die die Bibel nicht kennen, etwas darüber beibringen.«
Ein neunjähriges Mädchen namens Frehiwot, mit breiten Augenbrauen und zwei dicken schulterlangen Zöpfen,
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