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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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gestand überraschenderweise: »Ich will Pilotin werden.«
    »Ich glaube, in Amerika gibt es alles«, erklärte der hübsche Dagmawi Haregewoin und mir. »Jeder hofft, dass er von amerikanischen Eltern ausgesucht wird. Wenn die Kinder hören, dass sie Eltern haben, erzählen sie allen Leuten, wie ihre Eltern heißen und wo sie wohnen.«
     
    Haregewoin verstand unter Adoption Folgendes: In Zeiten der HIV/Aids-Pandemie werfen einige Familien aus fernen Ländern einzelnen Kindern einen Rettungsring zu. Die Chance auf ein neues Leben hatte ihren Preis, über den die äthiopische Regierung sorgsam nachdachte: Die adoptierten Kinder würden ihre Heimat, ihr Volk, ihren Glauben, ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Geschichte verlieren. Unter Umständen war das adoptierte Kind der einzige Äthiopier im Umkreis von mehreren hundert Kilometern oder das einzige Kind seiner Hautfarbe in der Schule. Aber dafür würde es das Einzige auf Erden bekommen, das unbestreitbar mehr wert war als die Heimat: eine Familie. Während die meisten afrikanischen Staaten Adoptionen für verwaiste Kinder außerhalb des eigenen Landes nicht in Betracht zogen, war die äthiopische Regierung zu dem Schluss gekommen, dass die verschwindend kleine Minderheit afrikanischer Waisenkinder, die bei ausländischen Eltern aufwachsen konnten, von einer Adoption profitierte, und erklärte, dass sie den Kindern keine Steine in den Weg legen wollte.
    2005 gab es in Äthiopien 1 563 000 Aids-Waisen, weltweit die zweithöchste Zahl, und 4 414 000 Waisen insgesamt, die zweithöchste Zahl in Afrika. Von all diesen Kindern kamen im gleichen Jahr 1400 zu neuen Familien ins Ausland. 126
    Zunächst von Zweifeln geplagt, ob nordamerikanische und europäische Familien in der Lage waren, äthiopische Kinder großzuziehen, besuchte Haddush Halefom, Leiter der Children’s Commmission und Soziologe, eine Reihe von Adoptivfamilien. »2004 war ich in Frankreich und den Niederlanden«, erzählte er mir, »außerdem in Amerika, in Vermont und Rhode Island. Ich habe gesehen, wie sie mit den Kindern umgehen, wie viel Liebe sie ihnen entgegenbringen, und wie viel Liebe die Kinder den Eltern entgegenbringen. Im Moment beschäftige ich mich mit der Möglichkeit, dass Familien HIV-positive Kinder adoptieren, wenn das die jeweiligen Regierungen erlauben; ich möchte das zu einem vorrangigen Anliegen machen, weil es den Kindern das Leben rettet, wenn man sie in Länder bringt, in denen es angemessene Behandlungsmöglichkeiten gibt.«
    Merrily Ripley sollte letztlich für siebzehn von den zwanzig Kindern Haregewoins, die sie an diesem Tag kennenlernte, ein neues Zuhause finden. Ein Junge sah aus wie sechzehn oder siebzehn, er war zu alt für eine Adoption, und zwei kleine Mädchen waren HIV-positiv, was zu jener Zeit die Erteilung eines Visums ausschloss.
    An diesem Tag kehrten sie alle mit Haregewoin nach Hause zurück. Aber Merrily Ripley hatte sich mit ihnen vor laufender Kamera unterhalten, und sie begann, die Fotos und ein paar grundlegende Informationen an wartende Familien in den Vereinigten Staaten zu verschicken. Wenn in Layla House durch die Abreise von Kindern nach Amerika Platz frei wurde, zogen Haregewoins Kinder grüppchenweise um.
     
    Als an diesem heißen Quietschkissen-Tag im November die Pause zu Ende war, kehrten die Schüler in ihre Klassenzimmer zurück: in dem Waisenhaus gab es eine Schule mit zwei Klassen, eine für fortgeschrittene Schüler und eine für Schulanfänger, unabhängig vom Alter. Die meisten Kinder waren im Grundschulalter, aber es gab auch ein paar schwitzende Teenager, die ebenso konzentriert und angestrengt lernten wie die Kleineren. Es gab Fünfjährige, die bereits lesen und schreiben konnten, wenn sie in das Heim kamen, weil sie von gebildeten Eltern gefördert worden waren (Helen gehörte zu ihnen); es gab Neun-, Zehn- oder Elfjährige, die Analphabeten waren, weil sie ihr bisheriges Leben mit dem Hüten von Ziegen auf den ausgedörrten Ebenen verbracht hatten (dazu gehörte unser zukünftiger Sohn Fisseha). Im äthiopischen Schulsystem beginnt ein Kind mit der ersten Klasse, egal, wie alt es ist.
    Es war eine Wohltat an diesem heißen, staubigen Tag, das kühle, weiß gestrichene Klassenzimmer zu betreten. Die Kinder saßen auf Holzbänken und wiederholten mit hellen Stimmen ihre Lektionen. Die Gesichter unter den baumelnden, perlengeschmückten Zöpfen und unter Schichten von Schmutz und Schweiß waren konzentriert und ernst. Im Sonnenlicht,

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