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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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und den bequemen Sandalen aussah wie eine liebe Großmutter, hatte mit einer einheimischen Pflegemutter gerechnet, nicht mit zwanzig Pflegekindern der einheimischen Pflegemutter. Als die Kinder aus dem Kleinbus kletterten, begrüßte Merrily jedoch alle mit einem zwitschernden Lachen, das ihre vielen langen, dünnen, mit weißen Perlen verzierten Zöpfchen hin und her schwingen ließ. Sie und ihr Mann Ted hatten einundzwanzig Kinder, drei eigene und achtzehn Adoptivkinder aus den Vereinigten Staaten, Korea, Costa Rica und Indien. Merrily Ripley war durch nichts so leicht zu erschüttern.
    Es war gerade Unterrichtspause, und auf dem Hof hinter den hohen Steinmauern von Layla House liefen Dutzende von Kindern herum. Schulmädchen warfen Kieselsteine und schlenkerten beim mancha (die äthiopische Variante von Himmel und Hölle) mit ihren langen Beinen, oder sie standen da und klatschten zu den immer beliebten Singspielen in die Hände. Andere lehnten im Schatten von Jasminbüschen an der kühlen Mauer und flochten einander die Haare zu Zöpfen, woben mit geschickten Fingern bunte Perlen hinein. Die Jungen jagten einem schlaffen Fußball hinterher. Die älteren Mädchen zogen sich in ihren Schlafraum zurück und ließen sich auf ihre Doppel- und Stockbetten fallen. Sie holten Papier und Stift hervor, um ihren Freundinnen zu schreiben, die bereits von Eltern in Amerika adoptiert worden waren, oder sie übten sich in den komplizierten Mustern von Schnurspielen, oder sie saßen auf dem Boden und spielten Uno. Ein paar größere Jungen, denen es zu heiß war, um weiter Fußball zu spielen, aber gleichzeitig an der Auswahl häuslicher Beschäftigungen der Mädchen fehlte, lehnten sich in das offene Fenster, um die Mädchen zu necken und zu ärgern.
    Haregewoin hatte sofort das Gefühl, dass die Kinder, die hier lebten, anders waren. Ihr kam es so vor, als verhielten sie sich bereits wie Amerikaner.
    Sie waren laut.
    Jungen und Mädchen, die auf der Straße gelebt hatten, die die städtische Verwahrlosung überstanden hatten oder aus den von Hungernöten geplagten Provinzen gekommen waren, Kinder, die versucht hatten, ihre jüngeren Geschwister am Leben zu erhalten, teils mit Erfolg, teils nicht, drängten sich jetzt unter einem Basketballkorb um ihren Sportlehrer. Er hatte ihnen amerikanische Spitznamen wie Michaeljordan und Shaq verpasst. Diese paar Dutzend Kinder wurden darauf vorbereitet, das gelobte Land zu betreten.
    »In Amerika ist jeder reich!«, erzählten sie einander. Und einige sagten: »Wenn man nach Amerika kommt, wird man weiß.«
    »Wann soll das denn passieren?«, fragte Haregewoin ein kleines Mädchen.
    Voll Zuversicht erwiderte das Kind: »Sobald man aus dem Flugzeug steigt.«
     
    Merrily sprach einzeln mit den Kindern oder mit den Geschwisterpaaren und nahm die Gespräche mit der Videokamera auf. Für zukünftige Eltern, die ein Baby wollten, würde eines von AAI ausgesucht werden. Aber Familien, die bereit waren, ein älteres Kind von der Warteliste aufzunehmen, erhielten die Gelegenheit, sich zuerst ein Video von den Kindern anzusehen.
    Wir sahen unsere zukünftige Tochter Helen zum ersten Mal im Juli 2001 in dem monatlich in Schwarzweiß erscheinenden AAI-Newsletter über »wartende Kinder«. Dann sahen wir sie auf einem AAI-Video mit anderen Kindern singen und aufgeregt herumhüpfen. Sowohl auf dem Foto als auch auf dem Video legte sie den rechten Zeigefinger auf den rechten Vorderzahn, eine Velegenheitsgeste.
    Ich war Jahre vor Haregewoin zum ersten Mal im Layla House gewesen.
    Im November 2001 saß ich auf dem Beifahrersitz von Selamnehs Taxi vor dem Tor von Layla House, nachdem er uns mit einem Hupen angekündigt hatte, und bereitete mich darauf vor, die fünfjährige Helen kennenzulernen. Es gibt auf dieser Erde wenig, was so schrecklich ist, wie einem Kind vorgestellt zu werden, dem gerade eingeschärft wurde, dass es dich Mama nennen soll. Selamneh fuhr auf den betonierten Hof, und in alle Richtungen stoben Kinder davon und riefen Helens Namen. Einige der größeren Kinder fanden sie und zerrten sie zu mir hin; sie traute sich nicht, mich anzusehen. Sie stand vor mir und sah zu Boden. Sie war winzig. Ihre Frisur bestand aus Zöpfchen mit vielen eingeflochtenen Perlen. Sie drückte ihren Finger gegen ihren Vorderzahn. Ich kniete mich hin und nahm sie in die Arme. Sie zitterte. Ich zitterte ebenfalls. Jemand machte Fotos von unserer ersten Begegnung, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht

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