'Alle meine Kinder'
größeres Kind adoptieren möchte?«, fragte sie eines Tages, während ein Vertreter einer spanischen Agentur zwei kleine Jungen, Zwillingsbrüder, auf dem Rücksitz seines Wagens unterbrachte. Solche Szenen wurden langsam unerträglich, die größeren Kinder kamen sich jedes Mal, wenn ein Baby abgeholt wurde, noch unerwünschter vor.
Anfangs waren die größeren Kinder losgerannt, wenn Besucher kamen, um sich zu kämmen und ein frisches Hemd anzuziehen, in der Hoffnung, dass es in letzter Sekunde etwas ändern würde, wenn sie einen guten Eindruck machten.
»Nein«, sagte der Vertreter der Agentur. »Die Leute wollen Babys. Manchmal Kleinkinder, aber hauptsächlich Babys und vor allem Mädchen.«
Für adoptionswillige Eltern, stellte Haregewoin fest, war bereits ein dreijähriges Kind ein »älteres Kind«, das abgelehnt wurde, weil es möglicherweise schon zu große Schäden davongetragen oder durch frühkindliche Erfahrungen traumatisiert war.
»Will denn niemand die größeren Kinder adoptieren?«, seufzte Haregewoin, als jemand von einer kanadischen Agentur ein Baby abholte.
»Versuchen Sie es bei den Amerikanern.«
»Was? Wirklich?«
»Die Amerikaner adoptieren jeden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Im Mutter-Teresa-Heim gab es einen Jungen, der beide Beine verloren hatte...«
»Was?«
»Ich glaube, er hat seine Ziegenherde über die Bahngleise getrieben, und ein Zug kam und hat den Jungen erwischt. Aber die Amerikaner haben ihn adoptiert. Sie adoptieren Schulkinder. Sie adoptieren Kinder mit spastischen Lähmungen. Sie bezeichnen sie als ›Kinder mit besonderen Bedürfnissen‹. Sie adoptieren...«
»Jungen?«
»Ja, Jungen! Sie adoptieren Jungen, sie adoptieren Geschwister.«
»Und große Jungen? Jungen im Schulalter?«
»Ja, das sage ich doch!«
Haregewoin schoss wie der Blitz davon. Sie rannte zurück ins Haus, um herumzutelefonieren und diese Amerikaner zu finden.
Sie fand Merrily Ripley, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Ted Adoption Advocates International (AAI) in Port Angeles, Washington, leitete.
AAI unterhielt in Addis Abeba zwei Waisenhäuser: das Layla House für Schulkinder und das WanHa House für Säuglinge und Kleinkinder. Unter Aufsicht des Ministeriums für Arbeit und Soziales (MOLSA) hatte AAI 1998 die ersten sechs äthiopischen Kinder an Adoptiveltern in Amerika vermittelt, 1999 fünfundzwanzig Kinder, 2000 vierzig Kinder, 2004 einhundertvierundfünfzig Kinder und 2005 würden es einhundertvierundsiebzig sein.
Haregewoin erreichte Merrily bei einem von deren häufigen Besuchen in Äthiopien, und Merrily lud sie ein, sich ihre Organisation anzusehen.
Haregewoin mietete einen Kleinbus, wachte darüber, wie sich zwanzig ihrer ältesten Kinder an dem Waschzuber im Hof abschrubbten und die Haare wuschen, wies sie an, sich von der Wäscheleine und aus den Kartons in ihrem Zimmer frische Sachen zu holen, und ließ sie in den Kleinbus klettern. »Seid brav!«, sagte sie streng vom Beifahrersitz aus, während sich die Kinder auf die Sitze verteilten und gegenseitig schubsten, weil sie neben ihren Freunden sitzen wollten. Ihr Blick fiel auf Henok, der versuchte, sich hinter einer Sitzlehne zu verstecken.
»Du da! Raus! Geh zu deiner Mutter!«, fuhr sie ihn an. Im Zeitlupentempo stieg er aus und sah sie dabei vorwurfsvoll an.
»Benehmt euch«, schärfte sie den anderen ein, als sie losfuhren. »Denkt an eure guten Manieren! Sprecht englisch!« Die Kinder sahen einander an und lächelten unsicher. Sie hatten keine Ahnung, wohin sie fuhren. Haregewoin drehte sich um und wischte einem Kind mit dem angefeuchteten Zeigefinger einen Schmutzfleck aus dem Gesicht. Sie griff in ihre Handtasche und holte bunte Plastikhaarspangen hervor, die sie verteilte. Ein Junge brachte die Mädchen zum Kichern, indem er sich eine davon in die Haare steckte, und Haregewoin sah ihn stirnrunzelnd an und drehte sich wieder nach vorn.
Das amerikanische Waisenhaus lag in einem ebenen, staubigen Viertel mit unbefestigten Straßen, verwaisten Grundstücken und aus Blech und Sperrholz zusammengeschusterten Geschäften. In den Auslagen wurden Fußbälle, Holzschmuck, in Folie eingeschweißte Kinderkleidung aus China, CDs beziehungsweise Raubkopien und gewebte Rastafari-Mützen angeboten. Aus den Lautsprechern konkurrierender Musikhändler dröhnten traditionelle äthiopische Lieder und amerikanischer Hiphop.
Merrily Ripley, eine weiße Frau in den Sechzigern, die mit ihren rosigen Wangen, den dicken Socken
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