'Alle meine Kinder'
immer leiser, geradezu traurig. Als Gruppe verbreiten die Kinder eine ausgelassene Stimmung, sie lärmten und tobten herum, spielten Völkerball und Fußball, aber neben der tapferen Fröhlichkeit gab es weiterhin verborgenen Kummer. Abends beim Schlafengehen war es am schlimmsten, wenn der Lärm, der Spielplatz und Speisesaal erfüllt hatte, verebbt war. Nachts wurden die Kinder von Gespenstern und Erinnerungen und Alpträumen heimgesucht. Durch die offenen Fenster hörten die Pflegerinnen die Kinder in ihre Kissen weinen.
»Ich komme aus der Provinz Shashemene«, erzählte mir der zwölfjährige Zerabruk im Jahr 2001. Er war der geliebte erstgeborene Sohn gewesen.
»Mein Vater war Ingenieur und meine Mutter Hausfrau. Wir haben in einem schönen Haus gewohnt. Ich habe zwei kleine Schwestern. Ich bin in die Schule gegangen und war sehr gut in Englisch, Mathe und Musik. Als ich in der zweiten Klasse war, bekam mein Vater Magenschmerzen. Daran ist er gestorben. Er war lange krank. Er ist zu Hause gestorben. Ich war acht, Mekdes war drei und Samrawit zwei.
Nachdem Vater gestorben ist, sind wir in ein ganz kleines Haus in der Nähe des Busbahnhofs gezogen. Nachdem Vater gestorben ist, haben wir kein Geld mehr gehabt. Dann ist Mutter krank geworden. Mutter hatte etwas mit den Nieren. Wir hatten nichts zu essen. Ich habe auf der Straße Kinder in meinem Alter gesehen, die Zuckerrohr verkauft haben, und ich habe überlegt, dass ich das auch machen könnte. Ich habe sie gefragt, wie es geht, und sie haben es mir gezeigt. Eine Stange Zuckerrohr kostet beim Bauern einen Birr (neun Cent). Man schneidet sie mit einem Messer in Stücke, und die verkauft man dann, und so kann man einen Birr achtzig verdienen. Ich war neun Jahre alt, als ich angefangen habe, Zuckerrohr zu verkaufen. Ich habe die Geldstücke gesammelt und sie meiner Mutter gegeben, und sie hat Essen gekauft.
Dann war sie zu krank, um aus dem Haus zu gehen, also habe ich das Essen gekauft und es meinen Schwestern gegeben. Mein Vater hatte mir gezeigt, wie man Essen kocht. Ich kann Eintopf kochen. Injera habe ich auf der Straße gekauft.
Mutter war fünf Monate krank, dann ist sie zu Hause gestorben. Als meine Mutter gestorben ist, war ich nicht da! Meine kleinen Schwestern haben geschrien, und die Nachbarn sind gekommen, um zu sehen, was los ist. Dann haben sie das Haus zugeschlossen und meine Mutter für die Beerdigung fertiggemacht.
Nach der Beerdigung bin ich in das Haus zurückgekommen. Meine Mutter war nicht mehr da, nur meine Schwestern. Ich bin traurig. Die Nachbarn kümmern sich um meine Schwestern.«
Er wischte sich über die Augen.
»Als ich das erste Mal in das Waisenhaus gekommen bin, habe ich geweint und war traurig, aber die anderen Kinder haben mich getröstet und mir alles gezeigt. Mein bester Freund ist Behailu. Am Tag bin ich immer froh und versuche an schöne Sachen zu denken. Nachts bin ich traurig, wenn ich an meine Eltern denke. Ich bin so traurig, dass ich zuletzt nicht bei meiner Mutter war. Ich habe Angst, dass ich meine Mutter enttäuscht habe.«
Bei AAI bat Zeraruk, der Sohn eines Ingenieurs, um einen Platz zum Basteln. Er bekam einen Lagerraum. In dem fensterlosen Raum mit den unverputzten Wänden stapelte er die Berge gebrauchter Kleidung an einer Wand auf und richtete sich einen Arbeitsplatz ein. Aus Büroklammern, Gummibändern und Blättern von einem Notizblock bastelte er einen Aufzug von der Größe einer Schuhschachtel. Er verband ihn mit einem Stück Draht mit der Steckdose an der Wand. Wenn er das Licht einschaltete, setzte sich der Papieraufzug, an der Wand entlangschrammend, nach oben in Bewegung. Sein neuestes Projekt war ein mittelalterliches Katapult, ein langer Hebel, der, wenn man ihn losließ, ein Geschoss durch die Luft schleuderte. Wenn er ein Stück Abfall darauf legte und den Hebel losließ, schoss die Vorrichtung nach oben und schleuderte den Abfall in den Mülleimer.
»Ich kann mich ein bisschen an meinen Vater erinnern«, erzählte mir die zwölfjährige Mekdes Zawuda mit dem fröhlichen runden Gesicht. »Ich erinnere mich, dass er sehr krank war. Leute kamen und saßen neben ihm. Bevor meine Mutter krank wurde, hat sie Baumwolle gesponnen und die fertige Baumwolle verkauft. Mit dem Geld hat sie Essen für die Familie gekauft. Als meine Mutter schlimm krank wurde, hat meine Schwester als Dienstmädchen gearbeitet, und wir haben von dem Geld gelebt. Ein paar Leute haben gewusst, dass meine Mutter
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