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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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das durch die scheibenlosen Fenster auf den Betonboden fiel, tanzten Staubflöckchen. An der Wand war eine Karte der Vereinigten Staaten befestigt, in der Dutzende von farbigen Nadeln steckten, um die Städte zu markieren, in die Kinder aus diesem Waisenhaus gezogen waren.
    Der Lehrer, ein junger Mann, der noch nie in Amerika gewesen war, obwohl es sein sehnlichster Wunsch war, schrieb englische Begrüßungsworte an die Tafel.
    »Wie geht es Ihnen?«, sprach er ihnen vor, jedes einzelne Wort betonend.
    »Wie geht es Ihnen?«, wiederholten die Kinder.
    »Mir geht es gut«, schrieb er mit Kreide an die Tafel.
    »Mir geht es gut«, ertönte es im Chor.
    »Es geht mir sehr gut«, schrieb er.
    »Es geht mir sehr gut«, sangen sie. Sie rollten ihre Rs, versahen sie mit einem kleinen Triller.
    »Ich bin sehr zufrieden.«
    »Ich bin sehr zufrieden.«
    Die Vorbereitung umfasste nicht das Erlernen von schlechten oder mittelprächtigen Neuigkeiten für ihre zukünftigen Gespräche in Amerika. Der Unterricht erfolgte unter der Prämisse, dass diese Kinder von amerikanischen Familien zur Adoption ausgesucht und ihnen der Flug, der sie aus Addis Abeba fortbrachte, bezahlt werden würde. Sobald der Papierkram, der von beiden Regierungen verlangt wurde, erledigt war, würden weiße oder schwarze Amerikaner vor dem Tor stehen, jedem die Hand schütteln und ihn umarmen, Hunderte von Fotos machen und mit ihren neuen Kindern davonfahren, um ein paar Tage in einem Hotel oder einem Apartment zu verbringen, bevor sie nach Amerika flogen. Aus der Sicht der Zurückbleibenden war eine Zukunft in Amerika ein phantastisches Geschenk, das Klagen kategorisch ausschloss, und deshalb bestand keine Notwendigkeit, sich das entsprechende Vokabular anzueignen.
    »Wie geht es Ihnen heute Abend?«, las er vor.
    »Wie geht es Ihnen heute Abend?«, wiederholten sie.
    »Es geht mir gut, danke.«
    »Es geht mir gut, danke.«
    »Ausgezeichnet, und Ihnen?«
    »Ausgezeichnet, und Ihnen?«
    Als nächste Lektion brachte ihnen der Lehrer bei, wie man auf verschiedene Weise »Ich weiß nicht« ausdrücken konnte: »Ich habe keine Ah -nung«, sagte der junge Mann über die Schulter und fuhr mit der Kreide über die Tafel.
    »Ich habe keine Ah -nung«, sangen die klaren, hohen Stimmen.
    »Ich glaube nicht.«
    »Ich glaube nicht.«
    »Ich denke nicht.«
    »Ich denke nicht.«
    »Fragen Sie mich nicht.«
    »Fragen Sie mich nicht.«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    Alle Kinder, die im Layla House wohnten, hatten einen oder beide Elternteile verloren; wenn ein Elternteil noch lebte, dann war er schwerkrank. Aber keines der Kinder fühlte sich einsam, ausgegrenzt, gebrandmarkt, wie es die wenigen Waisenkinder im Westen vielleicht tun. Einen oder beide Eltern zu verlieren war in ihrer Generation etwas Alltägliches.
    Als es Zeit fürs Mittagessen war, bedankten sich die Kinder höflich auf Englisch bei ihrem Lehrer, verließen im Gänsemarsch das Klassenzimmer und rannten anschließend wild durcheinander zum Speisesaal, um dort einen Platz neben den Freunden zu ergattern. Auf Holztischen über einem sauber gefegten Linoleumboden warteten Körbe mit Orangenstücken und in Scheiben geschnittenem Brot auf sie. Obwohl die Kinder zu jeder Mahlzeit am liebsten injera und wat (ein Eintopf aus Gemüse oder Fleisch) gehabt hätten, brachte man ihnen bei, wie in Amerika mit Messern und Gabeln zu essen und mit Gerichten wie Spaghetti und Fleischbällchen zurechtzukommen.
    »Bitte mir das Wasser reichen«, rief ein stämmiger Junge auf Englisch. »Vielen Dank.«
    »Ausgezeichnet, und Ihnen?«, erwiderte sein Freund, als er ihm den Krug gab. »Wie geht es Ihnen heute Abend?«
    »Fragen Sie mich nicht!«, rief der mollige Junge. »Wie geht es Ihnen heute Abend?«
    »Ich habe keine Ah -nung. Bitte, wie geht es Ihrer Schwester?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Bitte mir die Fleischbällchen reichen.«
    »Ganz herzlichen Dank.«
    »Ganz herzlichen Dank.«

39
    Wenn Haregewoin nach Einbruch der Dämmerung noch etwas länger hätte bleiben können, statt nach Hause zu ihren drei Dutzend Kindern eilen zu müssen, die darauf warteten, dass sie mit ihnen betete und ihnen einen Gutenachtkuss gab, dann hätte sie miterlebt, wie auch in Layla House langsam Ruhe einkehrte. Nachdem sich die Kinder zum Zubettgehen ausgezogen und gewaschen hatten, versammelten sie sich zum Beten im Gemeinschaftsraum - genau wie bei Haregewoin -, und ihre Stimmen wurden

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