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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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sie hatte die Fotos betrachtet, die ihr die Mitarbeiter der Agenturen gezeigt hatten: äthiopische Babys in schicken Kinderwagen, die von nordamerikanischen und europäischen Müttern und Vätern geschoben wurden. Babys in Autokindersitzen, Babys auf Hochstühlen, Babys in Planschbecken, Babys mit kleinen Hunden, Babys, die zufrieden und glücklich aussahen.
    Nun beweise, dass du selbstlos bist , ermahnte sie sich. Los, sei großzügig.
    Wo es an Menschen fehlt, sei ein Mensch.
     
    Eines Tages meldete sich eine italienische Agentur und fragte nach einem kleinen Mädchen.
    Wie damals die Frau aus Malta stand jetzt die Italienerin da und sah auf das Doppelbett hinunter, auf dem rosige Babys im Sonnenschein schliefen und dabei am Daumen nuckelten. Als diese Frau ihre Hände nach Menah ausstreckte, stürzte Haregewoin nicht vor, um sie aufzuhalten.
    »Menah? Den Namen kenne ich gar nicht. Was bedeutet er?«
    »Es ist... ein Name aus der Bibel.«
    »Darf ich sie mitnehmen?«
    »Ich will ihr nur noch die Windel wechseln. Und Ihnen ihre Papiere heraussuchen.« Sie reichte der Italienerin Menahs Akte und sagte: »Lassen Sie uns einen kurzen Moment zum Abschiednehmen.«
    »Kinder!«, rief sie mit heiserer Stimme. »Kommt und sagt eurer kleinen Schwester auf Wiedersehen!«
    Menah wachte auf, fröhlich wie immer, strampelte glucksend mit ihren dicken Beinchen, ihre schwarzen Augen funkelten.
    Die Frau hatte einen Kindersitz auf der Rückbank, in den sie das Mädchen setzte, das zu weinen anfing, kaum dass sie es Haregewoin aus den Armen genommen hatte. Haregewoin suchte an dem Torpfosten Halt, als das Auto davonfuhr, dann eilte sie mit einem Geschirrtuch vor dem Gesicht in ihr Zimmer. Dort saß sie auf der Bettkante, ließ die Mundwinkel hängen und wiegte sich in stummer Trauer vor und zurück. Als die Babys um sie herum sich zu regen begannen, nahm sie eines hoch, dann noch eines, hielt sie im Arm und weinte still vor sich hin.
    Niemals wieder! , schimpfte sie zornig mit sich. Niemals wieder darfst du dein Herz so sehr an eines der Kinder hängen. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann.

38
    Bei Haregewoin blieb kein Bett länger als zwei Wochen leer. Das kebele schickte ihr in wachsender Zahl ausgesetzte Säuglinge und Kleinkinder. Polizisten lieferten die Kinder bei Haregewoin ab. Kranke Eltern und gebrechliche Großeltern klopften zu jeder Tages- und Nachtzeit an ihr Tor und humpelten dann tränenüberströmt ohne ihre Kinder wieder davon. Ein Krankenhaus rief Haregewoin an und bat sie, einen neugeborenen Jungen abzuholen, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war. Es kamen nach wie vor auch größere Kinder zu ihr; sie musste die Älteren dazu anhalten, die Jüngeren zu füttern, zu baden, an- und auszuziehen und bei ihnen zu schlafen.
    Wenn einem Kind die Nase lief, lief sie am nächsten Tag zwölf Kindern und am übernächsten zweiundzwanzig. Wenn eines hustete, dann saßen binnen weniger Tage fünfzehn mit Hustenanfällen nachts wach im Bett. Fiebrige Erkrankungen sprangen so schnell wie Kopfläuse von einem Kind auf das nächste über. Und wenn ein kleines Mädchen mitten in der Nacht zu weinen begann (weil es an seine Mutter dachte), dann verbreitete sich das Gefühl der Einsamkeit wie eine ansteckende Krankheit, wie eine Pandemie, bis aus jedem Bett und jeder Wiege ein trostloses Wimmern zu vernehmen war und Haregewoin von einem Kind zum nächsten stolperte, es streichelte und ihm gut zuredete. Ihr Schlafmangel war so groß, dass sie oft im Sitzen einnickte; manchmal begann sie zu träumen, kaum dass sie eine Sekunde die Augen schloss.
    Und trotzdem konnte es immer noch passieren - es war verrückt in Anbetracht dessen, wie viele Menschen sich innerhalb der Blechwände ihres Hofs um sie drängten, aber es passierte -, dass sie sich nachts einsam fühlte und tief aus ihrer Brust der gleiche traurige Seufzer aufstieg wie aus der eines Waisenkindes.
    Atetegeb!
    Worku!
    Die kleine Menah!
    Sie verstand die Trauer der Kinder, weil sie das Gleiche empfand: die Einsamkeit all der Jahre, die man noch ohne die Menschen leben musste, die man zum Leben brauchte.
    Sie verstand es nur zu gut, wenn ein dreijähriges Mädchen wie die frisch verwaiste Sara sie mehrmals am Tag am Rock zupfte, um ihr ein wichtiges Geheimnis anzuvertrauen. Haregewoin beugte sich zu ihr hinunter, und Sara stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Haregewoin laut ins Ohr: »Ich kann jetzt heimgehen.«
     
    »Gibt es denn niemanden, der ein

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