'Alle meine Kinder'
krank ist, und haben uns Essen gebracht. Meine Mutter ist an Tuberkulose gestorben. Danach konnten wir nicht mehr länger in unserem Haus wohnen. Meine Schwester kann nicht für mich sorgen, deshalb bin ich hierhergekommen.«
»Ich habe bei meinen Eltern gewohnt, bis ich neun war«, erzählte Yesmirach, ein fünfzehnjähriger, kräftig gebauter Junge mit einem unschuldigen Gesicht, über das bei der Erinnerung an sie ein kurzes Lächeln huschte. »Wir sind zwei Mädchen und zwei Jungen. Ich bin der Älteste. Erst ist Mutter gestorben, dann ist Vater an Malaria gestorben. Mit neun bin ich für die anderen so was wie eine Mutter geworden.«
»Meine kleine Schwester Gelila ist vier«, erzählte Robel, neun Jahre, ein ungestümer Junge, der nicht gerade den Eindruck machte, als wäre er der Streber in der Klasse. »Wenn Gelila sieht, dass ich etwas in der Hand habe, fängt sie an zu weinen, und dann gebe ich es ihr. Sie kann sich nicht an unsere Eltern erinnern.«
»Ich bin von der ersten bis zur sechsten Klasse in die Schule gegangen«, erzählte Dagmawi, zwölf, ein schlanker Junge mit der typischen äthiopischen Gesichtsform: eine hohe, breite Stirn, große Augen, ausgeprägte Wangenknochen und ein schmales Kinn. »Vater war als Wachmann bei den Vereinten Nationen angestellt. Er hat gut verdient. Meine Mutter hat in einem Krankenhaus gearbeitet. Ich habe meine beiden Eltern durch Krankheiten verloren. Ich weiß nicht, wie Mutter gestorben ist. Als mein Vater krank wurde, hat er immer gerufen: ›Bring mir Wasser!‹ Ich habe ihm geholfen. Wenn er etwas aus dem Laden wollte, habe ich es ihm geholt. 2001 hat er etwas an der Leber bekommen und musste ins Krankenhaus. Nach zwei Monaten ist er gestorben. Meine Schwester Kalkidan ist zehn. Wir sind zusammen hier.«
Obwohl sie an ihren Erinnerungen hingen, brachten die Kinder manchmal einzelne Fakten durcheinander. Da es tabu war, das Wort Aids auszusprechen, hatte man den meisten Kindern nicht gesagt, woran ihre Eltern gestorben waren. »Mein Vater hat einmal zu viel getrunken und ist auf das Tor gefallen, und dann hat er einen Stein auf den Kopf bekommen und musste ins Krankenhaus und dann ist er gestorben. Danach ist er begraben worden«, erzählte Yirgalum, acht Jahre alt, mit traurigem Blick. »Meine Mutter und ich, wir waren beide sehr krank, und sie ist mit mir ins Krankenhaus gefahren, und wir mussten beide dableiben, und als ich mit den Schwestern gespielt habe, ist sie gestorben. Mein jüngerer Bruder ist vor meiner Mutter gestorben.«
Der neunjährige Robel glaubte, dass das Krankenhaus seine Mutter umgebracht hatte. »Ich bin in Tigray geboren«, sagte er. »Dann waren meine Eltern und ich als Flüchtlinge im Sudan. Mein Vater hat aus dem Flüchtlingslager Essen geholt und nach Hause gebracht. Und so ist meine Mutter im Sudan gestorben: Sie ist ins Krankenhaus gegangen, um sich Spritzen geben zu lassen. Die erste Spritze war gut; die zweite Spritze: sie ist immer müde; die dritte Spritze: sie ist gestorben. Dann habe ich gehört, wie die Leute um meinen Vater weinen. Sie haben gesagt: ›Dein Vater ist gestorben.‹«
»Mein Vater ist gestorben, als ich vier oder fünf war«, erzählte Fisseha, zehn Jahre. »Dann war meine Mutter zu arm, um mich zu behalten. In unserem Dorf gibt es einen reichen Mann, der Ziegen und Kühe hat. Meine Mutter hat mich zu ihm geschickt, zum Arbeiten. Ich habe auf seine Ziegen aufgepasst; abends hat er mir einen Maiskolben zum Essen gegeben und einen Platz zum Schlafen. Am Tag haben mir die großen Jungen in den Hügeln gezeigt, wie man Beeren zum Essen findet und wie man Fische fängt. Da konnte ich nicht in die Schule gehen.«
Die achtjährige Mekdelawit aus Dire Dawa erinnerte sich an die Zeit, als ihre Eltern starben: »Meine Schwester Abeltayit ist ein Baby, und sie liegt auf dem Boden und streckt die Füße in die Luft - so. Unsere ältere Schwester wirft sich vor das Auto und weint und schreit, dass sie sterben will, wenn unser Vater tot ist. Dann wird unsere Mutter so krank, dass sie nicht mehr aus dem Bett aufstehen kann. Sie kann nichts essen, und sie hat überall Flecken, und sie mag es, wenn wir ganz leicht ihre Haut kratzen.«
Mekdelawit und Abeltayit hatten acht ältere Geschwister, die versuchten, die beiden großzuziehen, aber sie mussten jeden Tag das Haus verlassen, um in die Schule und zur Arbeit zu gehen. Die Geschwister schärften den beiden jüngsten Schwestern ein, tagsüber im Haus zu
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