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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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sich auf ihrem schäbigen Hof umsah, bevölkert von Erwachsenen, die sich durch das Endstadium ihrer Krankheit schleppten, und von trauernden Kindern in verdreckten Sachen, wusste sie, dass die Kinder recht hatten, davon zu träumen, dass etwas Besseres auf sie wartete. Irgendwo jenseits dieses Hofs musste es hübschere Mütter, schönere Häuser, gehorsamere Hunde geben.
    Sie nahm es mit Würde und Gelassenheit. Sie fand sich mit dieser neuen Phase in ihrem Leben ab, mit der untergeordneten Rolle als Betreuerin von Kindern auf dem Weg in ein schöneres und besseres Leben.
     
    Eines Tages kamen zwei kleine Brüder an der Hand einer Frau, die sich als ihre Tante vorstellte. »Können Sie sie aufnehmen, waizero ? Meine Schwester ist gestorben.«
    »Können Sie sich nicht um sie kümmern? Sehen Sie sich um. Hier ist es völlig überfüllt.«
    »Nein, Madam«, sagte die Frau und senkte den Blick.
    Die Jungen sahen ihre Tante erstaunt an.
    »Können Sie etwas zu ihrem Unterhalt beisteuern?« Sie fühlte sich nicht bemüßigt, freundlicher zu sein.
    »Nein, waizero «, sagte die Frau mit abgewandtem Gesicht.
    Der kleinere der beiden Brüder, Teshome, begann zu weinen.
    »Sie haben Hunger«, flüsterte die Frau.
    »In Gottes Namen«, sagte Haregewoin. »Geht schon«, sagte sie zu den Jungen. »Die Kinder bekommen ohnehin gerade Mittagessen.«
    Mit gesenkten Köpfen und schlurfenden Schritten trotteten die Jungen davon.
    »Wollt ihr euch nicht verabschieden?«, fragte Haregewoin.
    »Nein!«, schrie der Ältere, Tesfaye, mit erstickter Stimme. Er sah sich nicht um.
    »Ja!«, sagte der Kleine, Teshome, und rannte zurück, um sein Gesicht im Rock seiner Tante zu vergraben. Er begann zu schluchzen.
    »Du wirst deine Tante wiedersehen«, sagte Haregewoin sanft, in der Hoffnung, auf diese Weise die Tante dazu zu bringen, ein tröstendes Wort zu sagen. Aber die Tante hielt den Kopf tief gesenkt und versuchte gleichzeitig mit aller Kraft, die Finger des Jungen von ihrem Rock zu lösen.
    Haregewoin hielt ihn fest, als die Tante durch das Tor nach draußen trat, ohne ein einziges Mal ihren Blick zu heben.
    Die Jungen waren lange Zeit untröstlich.
    Teshome stand über Wochen neben dem Tor und hoffte darauf, dass seine Tante zurückkommen würde. Jedes Mal, wenn jemand anklopfte, verzog sich sein Mund zu einem zittrigen Lächeln, das dann gleich darauf wieder verschwand. Tesfaye lief immerzu mit finsterer Miene herum, fand keine Freunde und bedankte sich niemals bei jemandem, der ihm etwas Gutes tat. Er wollte sich nicht fotografieren lassen. Er wies Haregewoins mütterliche Annäherungsversuche zurück. Ihm lag einzig und allein etwas an Teshome und daran, ihn zu beschützen. Persönlicher Besitz war ihm gleichgültig, abgesehen von Teshomes wenigen selbstgebastelten Spielsachen, die Tefaye mit wilder Entschlossenheit gegen alle anderen Kinder verteidigte. Er gab keiner der Betreuerinnen Anlass zur Klage, er benahm sich nicht schlecht, aber er zog sich völlig in sich zurück. Nachdem sich Teshome bei Haregewoin eingewöhnt hatte, fand der kleine Junge schnell Freunde; aber sein kalter, abweisender Bruder hielt Wache über ihn. Tesfaye spielte nicht mit. Er stand in einiger Entfernung und schaute finster drein, damit ja niemand eine Hand gegen Teshome erhob.
    Haregewoin hatte für so etwas keine Zeit mehr. Wäre Tesfaye ihr erstes Kind gewesen, dann hätte sie sich mit ihm hingesetzt, seine Hände umfasst und ihn dazu gezwungen, ihr in die Augen zu sehen und mit ihr zu reden. Wäre er eines von zehn Kindern gewesen, hätte sie immer noch die Zeit gefunden, sein Vertrauen zu gewinnen. Sie hätte ihm außer der Reihe ein paar Trauben oder eine Orange gegeben und ihn ermutigt, ihr zwischen den einzelnen Bissen sein düsteres Geheimnis anzuvertrauen. Aber mittlerweile waren es vierzig oder fünfzig Kinder, und sie hatte keine Zeit für so etwas. Sie konnte nichts weiter tun, als im Gedächtnis zu behalten, dass er ein schwieriger Fall war, und ihn an die AAI oder AFAA weiterzureichen, falls eine dieser Agenturen bereit war, sich der beiden Brüder anzunehmen.
    Die AAI tat es und fand eine Familie für sie.
    Es sollte achtzehn Monate dauern, bevor Tesfaye sein zorniges Schweigen brach und seiner Adoptivmutter in Oregon die Wahrheit gestand, das Geheimnis, das er niemals preisgeben sollte: die Frau, die die beiden Jungen bei Haregewoin abgeliefert hatte, war nicht ihre Tante. Sie war ihre Mutter.
    Ihr Vater war gestorben, erzählte er

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