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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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bleiben. Aus Angst, dass die Mädchen weglaufen und sich im Busch verirren könnten, erzählte ihnen der älteste Bruder, dass es dort draußen Monster gäbe, die kleine Mädchen fräßen. Die acht älteren Geschwister machten sich Sorgen um die beiden Kleinen, und sie berieten sich und beschlossen, sie ins Waisenhaus zu bringen.
    Die Geschichten ähnelten einander auf erschreckende Weise. Sie nahmen alle den gleichen Verlauf: Tod der Mutter, dann Tod des Vaters; oder zuerst starb Abaye , dann Amaye , dann die kleine Schwester, dann der lustige kleine Bruder, der noch ein Baby war. Einige Kinder sagten: »Ich glaube, dass mein kleiner Bruder noch lebt. Ich glaube, er ist noch im Krankenhaus. Ich bin ziemlich sicher.« Später erfuhr ich jedes Mal, dass der kleine Bruder oder die kleine Schwester auch tot waren.
    Die Augen der Kinder füllten sich mit Tränen, und aus ihrer Kehle stiegen Schluchzer, wenn sie erzählten, wie sie ihre Familien verloren hatten. Es ist zwar eine gemeinsame Erfahrung dieser Generation, Mutter oder Vater oder beide zu verlieren, aber jedes Kind hat seine ganz eigenen Verletzungen davongetragen.
    »Ich habe mit meiner Mutter in einem sehr kleinen Haus gewohnt«, erzählte mir meine Tochter Helen.
    »Meine Mutter war sehr schön. Sie hatte ganz, ganz lange glänzende Haare, bis zur Taille. In unserem Haus gab es zwei Sachen: Wir hatten ein Regal, und wir hatten ein Kinderbett. Das Bett war zu klein für meine Mutter, sie musste zum Schlafen immer die Beine anziehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter nicht krank war. An meinen Vater kann ich mich überhaupt nicht richtig erinnern; manchmal glaube ich, ich erinnere mich daran, wie er Zeitung gelesen hat. Meine Mutter hat mir Lesen beigebracht, als ich vier war. Amharisch mit vier, und Englisch mit fünf. Als ich fünf war, habe ich mich um meine Mutter gekümmert. Wenn sie etwas aus dem Laden gebraucht hat, habe ich es ihr geholt. Wenn sie Saft gebraucht hat, hat sie mir das Geld gegeben, und ich bin gegangen und habe ihr Saft gekauft. Einmal habe ich in dem Laden kleine glitzernde Klammern für die Haare gesehen. Sie haben ausgesehen wie Schmetterlinge. Ich hätte furchtbar gern solche Klammern gehabt, aber stattdessen habe ich den Saft für meine Mutter gekauft. Zu Hause habe ich meiner Mutter von den Klammern erzählt, und sie hat ja gesagt! Meine Mutter hat immer ja gesagt. Ich bin zurückgelaufen und habe die Schmetterlingsklammern gekauft. Aber eines Tages ist ein Taxi gekommen und meine Mutter ist in dem Taxi gestorben, glaube ich. Die Leute haben mich mitgenommen, und sie haben mich nicht mehr ins Haus gelassen, wo ich mir die Schmetterlingsklammern holen wollte, und ich habe mein Haus nie mehr wiedergesehen. Warum musste meine Mutter sterben?«
    Eines Tages, etwa vier Monate nach ihrer Ankunft in Amerika, brach Helen in meinen Armen zusammen, als die Erinnerung an ihre tote Mutter sie plötzlich überwältigte. Ich hielt sie fest, während sie sich krümmte und klagte: »Warum musste sie sterben?«
    Gleich darauf sagte sie, unterbrochen von Schluchzern: »Ich weiß, warum sie gestorben ist. Sie war sehr krank, und wir hatten keine Medizin.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Das stimmt. Es tut mir so leid.«
    Damals hatte ich mich schon länger mit dem Thema Aids-Waisen beschäftigt, aber ich war doch verblüfft, wie knapp und präzise und traurig sie es auf den Punkt brachte, eindringlicher als irgendwo auf den Tausenden von Seiten, die ich dazu gelesen hatte.
    »Ich wünschte, ich hätte dich damals schon gekannt«, sagte ich zu dem Kind in meinen Armen. »Ich wünschte, ich hätte ihr die Medizin schicken können.«
    »Aber wir hatten doch kein Telefon«, schluchzte sie, »und ich konnte dich nicht anrufen.«

40
    Haregewoin freute sich für die älteren Kinder, die ausgewählt worden waren, nach Amerika zu gehen.
    Bei ihrem Besuch in Layla House rannten die Kinder, die neue Familien bekommen hatten, los, um die Fotoalben zu holen, die ihnen aus Amerika geschickt worden waren. Die dicken kleinen Alben waren voll der unglaublichsten Bilder: lächelnde Erwachsene (weiße Amerikaner oder, in etwa 20 Prozent der Fälle, schwarze Amerikaner) standen in blühenden Vorgärten oder neben riesengroßen Autos; lachende Kinder saßen auf Rutschen und Schaukeln; Kinder mit Schwimmbrillen sprangen in Swimmingpools; Kinder in glänzenden Sporttrikots posierten mit ihren Mannschaften auf grünen Spielfeldern; Kinder schüttelten

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