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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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einer riesigen Mickymaus die Hand oder balgten sich mit Hunden vor einem offenen Kamin oder zogen Schlitten einen verschneiten Hügel hinauf.
    Die Waisen blätterten die plastikbeschichteten Seiten vorsichtig um und versuchten zu begreifen, was sie sahen. Das musste ein Märchen sein! Und doch hatte man jedem Kind, das ein solches Album besaß, erklärt, dass es ihm bestimmt sei, einen Platz auf diesen Bildern einzunehmen.
    Da es keinen Beweis für das Gegenteil gab, beschlossen die Kinder im Waisenhaus, es zu glauben, obwohl keiner ihrer alten Freunde oder ehemaligen Zimmergenossen jemals aus Amerika zurückgekommen war, um zu bestätigen, dass es tatsächlich wahr war.
     
    Haregewoin freute sich für sie, und gleichzeitig fühlte sie sich einsam.
    Es geschah alles nur um der Kinder willen, alles, was Haregewoin tat: das Beschaffen von Geld, T-Shirts, Hosen, Schuhen, Essen, Essen, Essen. Sie war von früh bis spät in Bewegung, als müsste sie sich durch Treibsand kämpfen; es geschah alles nur für die Kinder.
    Früher einmal hatte es so ausgesehen, als hätte sie auch etwas davon; früher einmal hatte sie ihr Tor, von einer unerklärlichen Vorfreude erfüllt, geöffnet.
    Wenn sie jetzt abends ins Bett fiel, schlief sie sofort ein und begann zu schnarchen. Sie war nicht mehr in der Lage, Liebe zu geben. Man kann nicht fünfundvierzig Kinder lieben; man kann nur auf mütterliche Weise für sie sorgen. Deine Hände können streicheln, deine Lippen können lächeln und Küsse verteilen, deine Stimme kann trösten, aber deine Gedanken schweifen ab.
    Es gab so viele Kinder wie Sterne am nächtlichen Himmel, aber keines davon war das ihre geworden.
    Sie begriff, dass ihr Haus zur Zwischenstation für Kinder geworden war, ein Schritt weg von dem Leid und hin zu einem unvorstellbar luxuriösen Leben in fernen Ländern. Sie ließ ihnen für eine begrenzte Zeit ihre Fürsorge angedeihen, war ein Wegweiser auf ihrem Weg. Die kleine Menah lebte jetzt in Italien; Meskerem und Selamawit warteten im Layla House darauf, dass man Familien für sie fand, ebenso die Zwillinge Rahel und Helen; und Ababu war gerade Cheryl Carter-Schotts aus Indianapolis vorgestellt worden, Leiterin einer zweiten amerikanischen Adoptionsagentur namens Americans for African Adoptions (AFAA).
    Bildhübsche Kinder, Kinder mit Zahnlücken, Brüder und Schwestern, Zwillinge, Geschwistertrios bevölkerten Haregewoins staubigen Hof, tollten fröhlich herum oder zankten sich, umarmten oder schubsten sich, kreischten und schrien. Zur Schlafenszeit kuschelte sich immer noch ein halbes Dutzend der Kleinen an sie, die versuchten, sich gegenseitig mit den Ellbogen wegzustoßen, weil jedes von ihnen Haregewoin am nächsten sein wollte. Und jedes Kind, ganz gleich, wie alt, das von einem Alptraum gequält wurde, stand mitten in der Nacht vor ihrem Bett, und immer schaffte sie es, auch noch für den großen Jungen oder das große Mädchen Platz zu machen. Doch obwohl sie sie wärmte und an sich drückte, obwohl sie ihnen versprach, sie vor den Hyänen zu beschützen, kannte sie nicht einmal die Namen der Kinder.
    Und jetzt, nachdem die Kinder begriffen hatten, was eine Adoption war, sehnten sie sich auch nach einer richtigen Mutter, nach einer eigenen Mutter. Sie wollten keine Gemeinschaftsmutter, eine alte, erschöpfte Ersatzmutter wie Haregewoin. Alle benahmen sich jetzt wie Henok, ständig auf der Suche nach der besten Gelegenheit, die von außen geboten wurde.
    Und es kam Haregewoin so vor, als würden sich einige nicht mehr damit zufriedengeben, bescheiden darauf zu hoffen, wieder von jemandem geliebt zu werden: Sie hofften auf eine hübsche Mutter, sie wollten einen reichen Vater, sie träumten von einem großen Haus, sie wollten eine Familie mit zwei großen Brüdern, einem Sportwagen und einem Pony.
    (Unsere Tochter Helen, die mit fünf Jahren zu uns kam und nichts besaß außer der Kleidung, die sie trug und die wir ihr geschickt hatten, war entsetzt darüber, dass sie sich ein Zimmer mit einem sechsjährigen Bruder teilen sollte. Sie war ebenso entsetzt, als dieser Bruder Action-Spielfiguren, Plastikpiraten und seine schmutzige Wäsche auf dem Boden herumliegen ließ. Als sie eines Tages von dem unverbesserlichen Bruder die Nase voll hatte, stampfte sie mit ihrem kleinen Fuß auf und fragte auf Englisch: »Wenn ich kein eigenes Zimmer kriegen soll, warum habt ihr mich dann überhaupt adoptiert?«
    Inzwischen hat Helen ein eigenes Zimmer.)
    Wenn Haregewoin

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