'Alle meine Kinder'
Fenster beobachteten, fühlten sich ausgeschlossen angesichts der überströmenden Mutterliebe, die die alte Haregewoin plötzlich erfasst hatte. Sie freuten sich, dass Haregewoin wieder entspannt und lustig war, aber sie selbst schienen von dieser heiteren Liebe nichts abzubekommen. Einige der kleinen Mädchen kamen schüchtern näher, tätschelten Nardos und strichen dabei mit den Fingerspitzen über Haregewoins Hand oder ihren Ärmel; aber sie scheuchte sie - nicht unfreundlich, nur geistesabwesend - wieder nach draußen.
Die erwachsenen Besucher im Wohnzimmer machten viel Aufhebens um Nardos; diejenigen, die einen guten Eindruck auf Haregewoin machen wollten, brachten ein kleines Geschenk für Nardos mit, wenn sie zu Besuch kamen. Bereits im zartesten Alter bezauberte Nardos alle damit, dass sie zur Begrüßung die Hände aneinanderlegte und eine kleine, höfliche Verbeugung machte.
Ach , dachte Haregewoin zufrieden, das Leben ist doch schön!
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Haregewoin hatte ihren guten Namen verloren.
Aus Trauer um ihre Tochter hatte sie ihr altes Leben als Frau eines Schulrektors, als Sachbearbeiterin und schließlich als Angestellte der Kirche in Kairo aufgegeben. Sie hatte sich selbst exkommuniziert und nur noch Schwarz getragen. Sie schloss Bekanntschaft mit den Menschen, die am Rand der Gesellschaft ihres Landes lebten - Erwachsene, deren Leben durch eine Krankheit zerstört wurden, verwaiste Kinder -, und begann mitten unter ihnen ein bescheidenes neues Leben.
Manch einem kam es jetzt so vor, als wäre das eine kluge Entscheidung gewesen, geradezu vorausschauend.
Sie gewann ihren guten Namen zurück.
Um 2003, 2004 wurden sich Menschen mit einem sozialen Gewissen zunehmend bewusst, dass die Aids-Pandemie in Afrika immer schlimmer wütete. Aids eroberte die Schlagzeilen aller Zeitungen. Die Vereinten Nationen beriefen eine Sondersitzung zum Thema Aids ein. Überall in und um Addis Abeba errichtete man Hinweistafeln mit der Aufforderung zu Safer Sex, mit der Aufforderung, Kranke nicht auszugrenzen. Der Bürgermeister von Addis Abeba sprach im Fernsehen über HIV/Aids und erklärte, wie man einen Bluttest durchführen ließ. Jeder kannte jemanden, der von Aids betroffen war. Es hatte sich zu sehr ausgebreitet, um länger versteckt werden zu können.
Haregewoin war die Erste in ihrem Freundeskreis gewesen, die sich um Aids-Waisen kümmerte. Plötzlich fand sie sich an vorderster Front einer riesigen Bewegung wieder. Ihr guter Name drang bis in die höchsten Kreise vor. Sie wurde zur Anlaufstelle für Frauen aus der Oberschicht, die ihre Hilfe anbieten wollten.
2004 rief eines Tages eine wohlhabende muslimische Äthiopierin an. Verheiratet mit einem Industriellen, gehörte sie zu den reichsten Frauen des Landes. Der siebente Geburtstag ihrer Tochter stand bevor. Das kleine Mädchen und seine Freundinnen von der Privatschule kannten zur Genüge Geburtstagsfeste mit Ponyreiten, Schwimmen oder Minigolf. Für sie war es nichts Ungewöhnliches, mit dem Privatjet zum Einkaufsbummel nach Dubai oder Paris zu fliegen, Skiurlaub in der Schweiz zu machen. Im vergangenen Jahr hatte das Geburtstagsfest des Mädchens im Sheraton Addis stattgefunden, im sicheren Teil der Stadt, am Ende einer langen, gewundenen Auffahrt, die von im Wind flatternden bunten Fahnen gesäumt war.
Das Thema der diesjährigen Geburtstagsfeier, erklärte die Mutter Haregewoin, sollten die Aids-Waisen sein. Es war an der Zeit, dass ihre Tochter lernte, den weniger Glücklichen zu helfen. Dürften sie das Fest in Haregewoins Haus veranstalten?
Das Waisenproblem in Äthiopien konnte von den herkömmlichen Netzwerken, die auf Familie, Glauben und Dorfgemeinschaft beruhten, nicht mehr aufgefangen werden; dass wohlhabende Philantropen Bedürftigen, mit denen sie nicht verwandt waren, zu Hilfe kamen, war etwas Ungewohntes und Unübliches.
Wenn die wohlhabenden Bürger der Stadt durch die staubigen Straßen fuhren und sich zwischen Horden von Bettlern hindurchzwängten, hielten die meisten von ihnen die getönten Scheiben ihrer Wagen geschlossen und drehten die Stereoanlage so laut auf, dass die Bitten und das Flehen von draußen übertönt wurden. Bisher hatte noch keine äthiopische Familie ein Kind aus Haregewoins Heim adoptiert. Die Privatschulen in Addis Abeba waren genauso exklusiv wie die in Nordamerika oder Europa, es gab schöne, große, solide gebaute Häuser, die mit Kunstwerken, Büchern, Unterhaltungselektronik und Computern des 21. Jahrhunderts
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