'Alle meine Kinder'
Moment eine Spur Bedeutung zu verleihen. Zu ihrer Überraschung griff Nardos mit ihren dünnen Fingern nach ihrem T-Shirt und hielt sich kurz daran fest, als sie sie in das Bettchen legte. Als Haregewoin ihr T-Shirt zu befreien versuchte, ließ Nardos sofort los und sah unbeteiligt drein, als wäre nichts gewesen.
Am nächsten Morgen nahm Haregewoin Nardos, die zwischen den anderen Babys auf einer Decke im Schlafzimmer in der Sonne lag, und band sie sich mit einem Tuch auf den Rücken. Das hatte nichts zu bedeuten. So etwas machte sie manchmal. Als es vormittags Zeit zum Füttern war, gab sie Nardos das Fläschchen, obwohl das Füttern normalerweise die älteren Mädchen und die Betreuerinnen aus der Nachbarschaft erledigten. Nardos wollte zuerst nicht trinken, aber Haregewoin brachte sie schließlich dazu, indem sie ihr mit dem Sauger über das Zahnfleisch strich und sie an der Wange kitzelte. Geistesabwesend begann die Kleine zu saugen und hielt dazwischen immer wieder lange inne, um auf einen Punkt irgendwo neben Haregewoins Kopf zu starren.
Allmählich, als sie keinen Hunger mehr leiden musste und sich ein gewisser täglicher Rhythmus einstellte, schien Nardos zu spüren, dass sich jemand um sie kümmerte. Jedes Mal, wenn sie schrie, tauchte dasselbe große, freundliche Gesicht über ihr auf. Eines Tages, als Haregewoin sie nach dem Schlafen aus dem Bett hob, verzog Nardos den Mund zu einem angedeuteten Lächeln.
»Na, so was, Nardos!«, rief Haregewoin. »Du wachst langsam auf, was?«
An einem anderen Tag, als Haregewoin ihr den Sauger in den Mund steckte, flüsterte sie ihr zu: »Du bist sehr, sehr klug, nicht wahr, Nardos?« Nardos saugte eifrig und hörte zu. »Das sehe ich an deinen Augen. Du bist wie meine Tochter Atetegeb. Dir entgeht nichts.«
Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich noch einmal zu verlieben, aber plötzlich begann die Liebe in ihr zu keimen, Haregewoins Herz teilte sich, und es öffnete sich eine neue Kammer darin, in die Nardos Einzug hielt .
Mit fünf Monaten hatte das Baby stramme Beinchen und zart gebogene, fedrige Augenbrauen. Wenn Haregewoin ihr am Morgen die Windeln wechselte, riss sie ihren zahnlosen Mund zu einem fröhlichen Lachen auf. Die gewölbte Stirn schien nicht länger ein Zeichen des Kummers zu sein, jetzt zeugte sie von Intelligenz.
Haregewoin staffierte Nardos aus wie eine junge Mutter ihr erstes Kind: Sie steckte sie in ein gerüschtes rosafarbenes Kleid und wand ihr ein rosafarbenes elastisches Band um das kahle Köpfchen. Voller Stolz und sicher, wie das Ergebnis ausfallen würde, fuhr sie mit ihr zu einem zweiten Test in die Klinik. Sie war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen und eine Wiederholung des Tests zu verlangen, falls er auch dieses Mal positiv ausfiel.
Sie wartete in einem Zimmer voller magerer Mütter und Väter, die alle so verängstigt waren, dass sie sich kaum zu rühren wagten und still dasaßen oder -standen, im Arm ihre blassen, großäugigen Kinder, Kinder, die wie Gespenster aussahen.
Drei Viertel der Kinder, die von HIV-infizierten Müttern geboren werden, tragen das Virus nicht in sich (deshalb die vielen Waisen), aber bei HIV-negativen Babys fällt das Testergebnis oft positiv aus, da sie die Antikörper ihrer Mutter im Blut haben. Die Veränderung des Testergebnisses von positiv zu negativ (wobei diese Kinder die ganze Zeit über gesund gewesen sind), wird als Seroreversion bezeichnet.
Medizin hin oder her, als Nardos’ Test auf HIV/Aids dieses Mal negativ ausfiel, war Haregewoin der Überzeugung, dass sie das Kind mit ihrer Liebe gerettet hatte.
»Wir haben es geschafft, Nardos! Braves Mädchen, braves Mädchen!«, sang Haregewoin auf dem Heimweg die ganze Zeit, und Nardos lag in ihren Kissen auf dem Rücksitz und lachte.
Mit zehn Monaten war Nardos ein properes kleines Mädchen, das stolz seine vier Zähne zeigte, wenn es lächelnd zwischen den Möbeln in Haregewoins Besuchszimmer herumwackelte und sie liebevoll tätschelte. Von allen Kindern hatte sie allein jederzeit Anspruch auf Haregewoin. Haregewoin hielt bei jedweder Tätigkeit inne, unterbrach jedes Telefonat, jede Unterhaltung, sobald Nardos » Amaye !« rief.
» Abet ? Was ist?«
» Amaye !«
» Abet ?«
Nardos kam ins Zimmer gestapft, zwängte sich zwischen einer Schar von Besuchern hindurch, um auf Haregewoins Schoß zu klettern und ihr Gesicht an das von Haregewoin zu pressen.
Die schmutzigen kleinen Mädchen, die das Ganze durch die Tür oder das
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