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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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einfach nicht glauben, dass mir, dass uns so etwas passiert. Als die Lastwagen kamen, schrien sie uns an, dass wir aufstehen sollen, und dann gingen sie mit ihren Gewehren neben uns her. Kurz bevor ich eingestiegen bin, konnte ich mich umdrehen und habe eine Freundin entdeckt, die mir nachsah; sie nickte mir zu, um mich wissen zu lassen, dass sie mich gesehen hatte; ich wusste, dass sie meiner Familie Bescheid sagen würde.
    Sie haben uns alle in eine Zelle gesteckt. An manchen Tagen ließen sie uns nach draußen, und unsere Familien versammelten sich auf der anderen Seite des Zauns. Meine Schwester kam, und mein Schwager, und sie brachten mir etwas zu essen mit. Ich berührte durch den Zaun die Hand meiner Schwester. Am schlimmsten waren die Tage, an denen wir nicht rausgehen und unsere Familien sehen durften.«
    Sie senkte den Kopf und begann zu zittern. Man ließ sie nach ein paar Wochen frei, aber sie hatte sich verändert. Sie wirkte gehetzt. Zu dem Gespräch mit mir war sie nur unter Zusicherung absoluter Geheimhaltung und Anonymität bereit. Sie ist eine Schülerin, deren Leben völlig aus der Bahn geraten ist, weil sie sich bei einer Protestkundgebung auf dem Schulhof von der allgemeinen Erregung mitreißen ließ und einen Stein über die Mauer geworfen hat.
    »Wenn Meles seine Wahlniederlage akzeptiert und die Macht abgegeben hätte wie der Demokrat, der er vorgab zu sein, hätte er damit im Westen eine ungeheure Popularität gewonnen«, erklärte mir ein äthiopischer Freund, ein Geschäftsmann. »Man hätte ihn als zweiten Mandela bezeichnet. Er hätte sich auf eine ausgedehnte Vortragsreise durch amerikanische Universitäten und europäische Hauptstädte begeben können und wäre ein gesuchter Berater gewesen. Wir hätten ihn nicht vermisst, das kannst du mir glauben! Wir wissen, was für ein Mensch Meles ist. Aber niemand hätte etwas dagegen gehabt, dass man ihn im Westen als eine Art demokratischen Heiligen betrachtet, wenn er zurückgetreten wäre.
    Stattdessen wurden die Wahlergebnisse gefälscht, und es hat sich mal wieder ein Klischee über Afrika bestätigt.« 134
     
    In der Zwischenzeit kamen und gingen die Leute aus dem Westen. Äthiopische Freunde brachten sie zum Bole International Airport. Kurze Zeit später wurde die Aufmerksamkeit der Reisenden von Kopfhörern, ergonomisch geformten Nackenkissen und amerikanischen Spielfilmen in Anspruch genommen. Und im selben Augenblick, in dem ihre Jumbojets im Himmel über Äthiopien entschwanden, landeten neue Jumbojets mit jeder Menge ausländischer Experten an Bord.
    In zunehmendem Maß wurde Haregewoin von Fremden als Torwächterin zu der merkwürdigen und traurigen neuen Unterwelt von HIV/Aids in Afrika betrachtet. Sie kannte Leute, die tatsächlich an Aids starben. Sie zog deren Kinder groß.
    Einige der ausländischen Besucher kamen zu Haregewoin und fragten, wie sie helfen könnten. Sie saßen bei ihr und bedankten sich höflich für den Kaffee, für die Orangenschnitze, für das Popcorn. Sie lobten den Kaffee, die Orangen, das Popcorn und die niedlichen Kinder draußen auf dem Hof. Sie schlugen die Notizbücher und Kalender auf, sie tippten auf ihren Taschenrechnern herum und hofften, hier ein gutes Werk zu tun. Sie kamen aus Italien, Schweden und Norwegen. Sie fragten Haregewoin, ob sie ihre Kinder für den Vorstand ihrer NGOs zu Hause fotografieren dürften, und sie bedankten sich bei ihr, wenn sie es ihnen erlaubte.
    Ein Beitrag über Haregewoin, den ich für Good Housekeeping schrieb, veranlasste Tausende von Lesern, Spenden zu schicken. Vielen davon legten einen Brief bei, in dem sie zum Ausdruck brachten, wie überrascht und traurig sie von der Nachricht seien, dass überall in Afrika so viele Menschen starben. Die meisten schrieben: Das haben wir nicht gewusst .
    Die Geldspenden für den Atetegeb-Worku-Verein zur Unterstützung von Waisen ermöglichten es Haregewoin, einen Schritt zu wagen, über den sie lange nachgedacht hatte. Bevor für äthiopische Kinder Medikamente gegen Aids zur Verfügung standen, galt es als riskant, wenn HIV-positive Kinder mit HIV-negativen Kindern zusammenlebten, weil Letztere Kinderkrankheiten wie Erkältungen oder Windpocken ebenso schnell überstanden, wie sie sie einfingen, während diese Krankheiten für ein immungeschwächtes Kind verheerende Folgen haben konnten. Andererseits hegte man Befürchtungen, dass die kranken Kinder, die ständig von opportunistischen Infektionen geplagt wurden, die

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