'Alle meine Kinder'
erstellen, die wahre Meisterwerke geometrischer Muster und Farben waren. In den Konferenzräumen und Ballsälen der besten europäischen Hotels wurden Vorträge gehalten; die Teilnehmer machten sich Notizen auf ihren Laptops; die Lüster über ihren Köpfen wurden während der Diashows und PowerPoint-Präsentationen heruntergedimmt.
»Wir sind unschlagbar, wenn es um Studien und Dokumentationen geht«, sagt der UN-Sondergesandte Stephen Lewis. »Jahresberichte wie der Epidemic Update von UNAIDS […] sind Musterbeispiele für Datensammlungen, und sie enthalten jede Menge hochinteressantes statistisches Material. Aber der Bericht selbst bestätigt nur, dass kaum ein nennenswerter Fortschritt im Kampf gegen die Pandemie festzustellen ist. Wir brauchen eine übermenschliche Anstrengung aus jeder Ecke der internationalen Gemeinschaft. Doch wir bekommen sie nicht. Beim gegenwärtigen Tempo werden wir bis zum Jahr 2012 eine Gesamtzahl von 100 Millionen Todesfällen und Infektionen zu verzeichnen haben.« 130
Manchmal kam es den zu Besuch weilenden Experten so vor, als wäre das stolze und abgelegene Land in den Hügeln mit einem Fluch belegt worden und es wäre lediglich ein Zauberspruch aus der westlichen Welt erforderlich, um es davon zu erlösen, so dass Glückund Wohlstandzurückkehrten. Wirtschaftliche Entwicklung und politischer Fortschritt schienen gelegentlich in greifbare Nähe gerückt.
Viele äthiopische Führungspersönlichkeiten hätten es vorgezogen, sich nicht zu ergeben und sich nicht mit ausgestreckter Hand an den Westen wenden zu müssen. Äthiopien war schon lange ein zivilisiertes und unabhängiges Land gewesen, bevor die prosperierenden Staaten der nördlichen Hemisphäre überhaupt entstanden waren. Das Symbol Äthiopiens und das Symbol des letzten Kaisers war der Löwe von Judäa. Der Löwe von Judäa gibt sich nicht unterwürfig.
Aber Unterstützung aus den reichen Ländern - Schuldenerlass, fairer Handel und die Aufhebung teurer Patente für medizinische Wundermittel - war im Kampf Äthiopiens gegen die Armut unerlässlich, deshalb war der Löwe von Judäa gezwungen, sein Haupt zu beugen. Der Löwe senkte dabei seinen Blick.
Die Äthiopier waren nicht sicher, wie viel ihre ausländischen Besucher - wie viel die Welt da draußen - von den Machtverhältnissen in ihrem Land und der demonstrativen ethnischen Politik und den Grenzstreitigkeiten mit Eritrea begriffen.
Nach dem Sturz von Mengistus kommunistischem Regime im Jahr 1991 versprach die neue Regierung unter Meles Zenawil, die demokratischen Freiheiten - einschließlich Presse- und Versammlungsfreiheit - und ein Mehrparteiensystem zu fördern.
In den letzten Jahren trugen die stagnierende Wirtschaft und die sich ausweitende Aids-Krise - die zu Problemen wie regionalen kriegerischen Auseinandersetzungen, Nahrungsmittelknappheit, schlechten hygienischen Verhältnissen, unzureichender Frischwasserversorgung und weiteren Mängeln des öffentlichen Gesundheitswesens hinzukamen - in der Bevölkerung zu der Entschlossenheit bei, den Premierminister (der in seiner Regierung Leute mit der gleichen ethnischen Abstammung wie er bevorzugte) und seine Partei, die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front, abzusetzen.
Aber würde Meles Zenawi auch wirklich zurücktreten, wenn er 2005 nicht wiedergewählt wurde? Viele beteten und träumten davon, dass er es tun würde. Müsste es ihm bei seinem demokratischen Auftreten, seinen liberalen Verlautbarungen und seinen freundschaftlichen Beziehungen zu den politischen Führern dieser Welt, insbesondere zum englischen Premierminister Tony Blair, nicht peinlich sein, sich gegen den Willen des Volkes an die Macht zu klammern?
Nach der Wiederwahl von Meles Zenawi im Mai 2005 war sofort von Wahlbetrug die Rede. 131 Seine Weigerung, die Macht abzugeben, empfand die Mehrheit der Äthiopier als zutiefst antidemokratisch. Ende 2005 sah sich die Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahlergebnisse manipuliert zu haben, Journalisten und Oppositionsführer ins Gefängnis zu sperren und Proteste mittels Waffengewalt, der Ausweisung von ausländischen Beobachtern und Massenverhaftungen zum Verstummen zu bringen.
Die Koalition für Einheit und Demokratie (Coalition for Unity und Democracy - CUD) rief zum Zeichen des Protests gegen den vermeintlichen Wahlbetrug zum gewaltfreien nationalen Widerstand auf, unter anderem zu einem Generalstreik und Boykott aller von der regierenden Partei betriebenen Geschäfte.
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