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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Antwort lachten sie, ein volles, lautes amerikanisches Lachen.
    »Ist das... Newyorkcity?«, fragte sie.
    Die Stadt ragte unter einer grauen Glocke aus Nebel oder Abgasen in die Höhe. Der Himmel selbst war in Amerika ganz weit weg. Keine Sterne waren zu sehen, nur ein leuchtendes Grau, ein wogender Baldachin. So als läge ein Bettüberwurf über den Wolkenkratzern.
    »Sind Sie zum ersten Mal in New York?«, fragten die jungen Frauen, aber eigentlich war die Frage überflüssig, weil Haregewoin noch immer den Türgriff mit beiden Händen umklammert hielt und mit offenem Mund aus dem Fenster starrte, während ihr Atem kleine Dampfwölkchen in dem kalten Auto bildete.
    »Ja«, sagte sie.
    Die großen Gebäude waren von innen erleuchtet. Tausende von Glasfenstern glänzten in der Luft. Gebäude mit spiegelnden Fensterreihen standen in Habtachtstellung, eines am anderen bis zum Horizont. Jedes Gebäude war wie eine Laterne, durch unzählige Öffnungen leuchtete das Licht der Flamme.
    Sie dachte, dass Amerika über ein Übermaß an Strom verfügen musste. Das Einzige, was in Äthiopien in solchem Übermaß vorhanden war, war Staub.
    Sie stellten das Auto ab und eilten durch die eiskalten Straßen. Die beiden Frauen trugen Hargewoins Koffer, stiegen dann ein paar Stufen hinunter und tauchten in die Wärme und den Lärm eines Restaurants namens Queen of Sheba an der 10th Avenue ein.
    » Selam, indemin allachihu ? Hallo, wie geht’s?«, begrüßte sie die Empfangsdame. »Drei Plätze zum Abendessen?«
    Haregewoin machte sich mit Appetit über das Essen her, das vor sie hingestellt wurde: injera und doro wat (Hühncheneintopf), tibs (scharfes Rindfleisch), iab (ein Frischkäse), sega wat (Lammeintopf) und tej (Honigwein), um das Ganze hinunterzuspülen. Fast wie zu Hause! Gut, milder vielleicht... aber von der Art her genau wie das Essen zu Hause.
    » Waizero Haregewoin«, sagte eine der jungen Frauen, »wir müssen jetzt leider gehen, weil wir morgen arbeiten. Wohin dürfen wir Sie bringen? Möchten Sie mit zu uns in unsere Wohnung kommen? Sie sind herzlich willkommen. Ich rufe meine Mutter an, damit Sie Ihnen morgen Gesellschaft leistet. Ich kann Ihnen versichern, dass ihr Amharisch besser ist als meines. Sie schimpft mich dauernd deswegen!«
    Mittlerweile hatte Haregewoin schon neue Bekanntschaften unter den anderen Gästen geschlossen. Die beiden jungen Frauen hatten erzählt, sie hätten die traditionell gekleidete, kleine Frau in dem weißen, handgewebten Tuch aus der Heimat kennengelernt, als sie weinend in der Gepäckausgabe des Flughafens Newark stand.
    Die äthiopisch-amerikanischen Gäste, die sich hier nach der Arbeit auf einen Drink oder ein spätes Abendessen trafen, waren höflich und neugierig, und Haregewoin ergriff die Gelegenheit, ihnen von ihrer Mission zu berichten: Dass sie nach Amerika gekommen war, um Geld für die Waisen zu sammeln. Viele der gutgekleideten Leute in dem Restaurant nickten ihr lächelnd zu. Solchermaßen ermutigt, zog sie ihren dunkelblauen Leinwandkoffer in die Mitte des Raums und öffnete den Reißverschluss. Sie holte drei Fotoalben mit Bildern von ihren Kindern heraus und gab sie den Gästen, die am nächsten saßen. Dann rollte sie zwanzig handgewebte Schals und ein Dutzend schwere traditionelle Tücher aus, die von HIV/Aids-Infizierten aus ihrem Viertel, unter anderem von Gatechew, angefertigt worden waren. Sie wollte sie an die Gäste des Restaurants verkaufen und zu Hause das Geld an die Weber verteilen. Ein junger Mann lachte und legte die Schals zurück. »Behalten Sie Ihre Schals, Waizero ; verkaufen Sie sie woanders. Wir helfen Ihnen auch gerne, ohne etwas dafür zu bekommen.« Er leerte einen Brotkorb, ließ ihn herumgehen und kam mit 460 Dollar für Haregewoins Kinder zurück.
    Um sie herum klappten wohlhabend wirkende junge Frauen und Männer ihre Handys auf und fingen an, für sie herumzutelefonieren. Mit Haregewoins Hilfe erreichten sie mein Handy. Viele von ihnen. Ein Dutzend.
    Als mein Flugzeug aus Atlanta in Newark eintraf und ich mein Handy einschaltete, warteten fünfzehn Nachrichten auf meiner Mailbox. In zunehmend dringlichem Ton wurde mir zum Teil auf Englisch, zum Teil auf Amharisch mitgeteilt, dass sich meine kleine, rundliche äthiopische Freundin mutterseelenallein in der bitterkalten Nacht in die große Stadt New York aufgemacht hatte, ihren Koffer hinter sich herziehend, an den Füßen nur Sandalen. Da viele der Nachrichten auf Amharisch waren, war ich

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