'Alle meine Kinder'
Im Juni 2005 und dann erneut im November fanden in Addis Abeba und in den kleineren Städten Dese, Debre Berhan, Bahir Dar und Awasa Demonstrationen gegen die Regierung statt. Sie reagierte darauf mit der Entsendung bewaffneter Sicherheitskräfte, die tatsächlich das Feuer eröffneten. 46 Demonstranten und Passanten - Männer, Frauen und Kinder - wurden getötet, 200 wurden verletzt, und 4000 Menschen (darunter viele Studenten) wurden verhaftet, einschließlich bekannter Persönlichkeiten wie Hailu Shawel, siebzig Jahre, Vorsitzender der oppositionellen CUD; Professor Mesfin Woldemariam, 75 Jahre, ehemaliger Vorsitzender des Äthiopischen Rats für Menschenrechte; Dr. Yacob Hailemariam, ehemaliger Sondergesandter der Vereinten Nationen und Anklagevertreter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda; Ms. Birtukan Mideksa, stellvertretende Vorsitzende der CUD und ehemalige Richterin; und Dr. Berhanu Nega, gewählter Bürgermeister von Addis Abeba und Professor für Wirtschaftswissenschaften. 2500 Inhaftierte hat man seither wieder freigelassen, ohne dass Anklage erhoben wurde; es ist nicht bekannt, wie viele noch festgehalten werden oder wo sie sich befinden. Premierminister Meles hat erklärt, dass man die Inhaftierten wahrscheinlich wegen Landesverrats vor Gericht stellen werde.
Die CUD gewann bei der Wahl ein Drittel der Sitze, boykottierte die neue Regierung jedoch, weil sie nicht rechtmäßig zustande gekommen sei.
Im November 2005 erklärte Amnesty International, man befürchte, »dass den Häftlingen eine Freilassung auf Kaution verweigert wird und dass sie unter schlimmsten Bedingungen in verlängerter Untersuchungshaft festgehalten werden, was zu einem übermäßig langen Prozess mit zahlreichen Vertagungen führt, und dass sie keinen ordentlichen Prozess entsprechend internationaler Richtlinien bekommen.«
Diese Befürchtung erwies sich als zutreffend. Im Februar 2006 begann vor dem Bundesgericht der Prozess gegen 80 Angeklagte, von denen 38 nicht anwesend waren. Die Anklage lautete unter anderem auf Hochverrat, »Verstoß gegen die Verfassung«, »Aufruf und Organisation eines bewaffneten Aufstandes« und »Genozid«. 132
Die meisten der Angeklagten weigerten sich, auszusagen oder sich zu verteidigen, da sie nicht mit einem fairen Prozess rechneten. Amnesty International erklärte die Anklagen für unbegründet und verlangte die sofortige und bedingungslose Freilassung von Oppositionsführern, Menschenrechtlern und Aktivisten. »Diese Leute sind Gefangene des Gewissens; man hat sie lediglich wegen ihrer gewaltlosen Überzeugungen und Aktionen eingesperrt«, sagte Kolawole Olaniyan, Leiter des Afrika-Programms von Amnesty International. »Außerdem entsprechen die von der Staatsanwaltschaft angeführten Gründe für eine Anklage wegen ›Genozids‹ nicht im Entferntesten der international anerkannten Definition von Genozid - und auch nicht der im äthiopischen Strafgesetzbuch festgelegten Definition. Diese absurde Anklage sollte auf der Stelle fallen gelassen werden.« 133
Ich sprach mit einem schüchternen sechzehnjährigen Mädchen, deren Schwester und Schwager, bei denen sie in Addis Abeba wohnte, während der Novemberunruhen jede Spur von ihr verloren hatten.
»Ich habe einen Stein geworfen«, erzählte sie mir unter Tränen in meinem Hotelzimmer. Das war im Februar 2006, drei Monate nach den Ereignissen, aber sie schien immer noch unter Schock zu stehen. Sie trug einen karierten Rock und eine kurzärmlige weiße Bluse; ihre Haare waren zu hübschen Zöpfen geflochten. »Ich stand auf dem Schulhof und habe ihn einfach nur über die Mauer geworfen. Als die Sicherheitstruppen mit ihren Gewehren hereinstürmten, sind wir alle ins Schulhaus gelaufen; die Leute haben geschrien, geweint, sie sind hingefallen. Die Soldaten haben sie getreten und geschlagen. Einige Schüler sind blutüberströmt über den Boden gekrochen. Drinnen sonderten sie die den Tigray angehörenden Schüler [Meles’ ethnische Gruppe] aus und benutzten sie als Informanten. Wir mussten uns mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, und die Soldaten sind mit ihren Informanten an uns vorbeigegangen. Einer hat auf mich gezeigt und gesagt, ich hätte einen Stein geworfen, und sie haben mich gepackt.
Wir mussten stundenlang auf dem Boden sitzen und warten, bis Lastwagen kamen und uns ins Gefängnis brachten. Wir durften nicht hochsehen oder miteinander reden, wir durften nicht unsere Handys benutzen, um zu Hause anzurufen. Ich konnte
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