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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Empfang genommen, durch die Pass- und Zollkontrolle gelotst und zu einem Pendlerflugzeug nach Newark in New Jersey gebracht.
    An einem Novemberabend des Jahres 2004 landete sie in Newark.
    In ihrem traditionellen äthiopischen weißen Kleid, shamma (Tuch) und Sandalen wurde sie von den anderen Passagieren, die das Flugzeug verließen, über die Rolltreppen zur Gepäckausgabe mitgerissen. Niemand holte Haregewoin ab, weil sie in ihrer Aufregung vergessen hatte, mir mitzuteilen, an welchem Tag und auf welchem Flughafen sie eintreffen würde.
    In der Gepäckausgabe drängten sich die Leute, schnappten sich ihre Taschen, brüllten irgendjemandem am anderen Ende etwas zu, winkten und eilten davon, ihre Trolleys hinter sich herziehend. Haregewoin war seit sechsundzwanzig Stunden unterwegs und wusste plötzlich nicht, was sie tun sollte. Der Flughafen schien sich zusehends zu leeren, Koffer schlingerten auf quietschenden Rädern hinter ihren fliehenden Besitzern her.
    Sie schleifte ihren schweren Stoffkoffer (ohne Räder) über das Linoleum, blieb vor der automatischen Ausgangstür, durch die alle anderen davoneilten, stehen, spürte, wie ihr durch die offene Tür ein kalter, salziger Wind entgegenschlug, und fing an zu weinen.
    Sie gab an diesem Donnerstagabend auf dem Flughafen Newark ein merkwürdiges Bild ab: eine kleine, rundliche äthiopische Frau in einem traditionellen Kleid mit Tuch, die durch die Glastüren auf den Parkplatz hinaussah und weinte.
    Zwei äthiopisch-amerikanische Frauen, die mit ihren quietschenden Trolleys an ihr vorbeieilten, verlangsamten ihren Schritt, dann blieben sie stehen und musterten sie. Sie erkannten die Kleidung, sie erkannten die Physiognomie. Auf Amharisch sagten sie: » Dehna amshee. Indemin allesh ?« Guten Abend. Wie geht es Ihnen?
    » Dehna . Mir geht es gut«, antwortete Haregewoin dankbar.
    »Können wir Ihnen helfen?«, erkundigten sie sich auf Englisch. Sie trugen enge Jeans, Schuhe mit hohen Absätzen, große Ohrringe und schwarze Lederjacken mit Gürteln. Die Haare fielen ihnen in dicken Locken auf die Schultern.
    » Ow, ow , ja, ja«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wohin ich soll«, fuhr sie dann auf Englisch fort.
    »Sollte Sie hier jemand abholen?«
    »Ja«, sagte sie ungerechterweise.
    »Wollen Sie warten?«
    »Ich glaube nicht, dass noch jemand kommt!«, jammerte sie. »Sie haben mich vergessen!«
    »Kommen Sie mit uns«, sagten die Frauen. Ihre Gesichter unter dem schimmernden Puder und dem Lidschatten waren äthiopisch, aber in ihrer Art waren sie sehr direkt und selbstbewusst. Die Absätze ihrer Stiefel klackten bei jedem ihrer großen Schritte forsch über das Linoleum. In Äthiopien werden Mädchen zu Sanftmut und Bescheidenheit erzogen, dazu, sich hinzuknien, andere zu bedienen, die Augen niederzuschlagen. Diese Frauen dagegen warfen sich ihre Locken über die Schultern, sprachen mit lauter Stimme, zeigten beim Lachen ihre langen, weißen Zähne und strebten an anderen vorbei auf den Ausgang zu.
    Haregewoin folgte ihnen und schleifte ihren Koffer hinter sich her. Der schneidende Wind auf dem Parkplatz wehte beinahe ihren Baumwollschal weg und ließ sie zusammenfahren. Ihre Hände, die den Koffergriff umklammert hielten, brannten in der eisigen Luft. Die lederne Rückbank des Autos war ganz steif von der Kälte, und sie konnte ihr Zittern nicht unterdrücken.
    »Wohin bringen Sie mich?«, fragte sie mit kläglicher Stimme.
    »Wie wäre es mit einem äthiopischen Restaurant?! Haben Sie Hunger?«, fragte eine der jungen Frauen. Sie brauchte keinen Taxifahrer, Ehemann oder Bediensteten, sondern nahm selbst hinter dem Lenkrad Platz, holte Geld aus ihrer Brieftasche, zahlte den Parkplatzwächter, gab Gas und fädelte sich in den Verkehr ein. Haregewoin klammerte sich mit beiden Händen an den eiskalten Türgriff.
    Es war, als wäre sie in einer fernen Galaxie gelandet. Sie erkannte die Grundelemente der nächtlichen Stadtlandschaft wieder - hier war eine breite Straße und eine Brücke über einen dunklen Fluss; dort standen zweistöckige Wohnhäuser aus Backstein und die Schlote einer Fabrik; auf dem Fluss fuhren Boote und Schiffe. Als sie nach Manhattan hineinfuhren, entdeckte sie kleinere Lebensmittelgeschäfte, Bars, Zeitschriftenkioske, Obststände. Aber die Dimensionen und Proportionen von alldem waren ihr völlig fremd.
    »Sind Sie beide Äthiopierinnen?«, fragte sie die jungen Frauen verunsichert, während sie durch die dunklen Straßen schossen.
    Satt einer

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