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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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weil ich immer wieder wegfliegen kann.

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    Wasihun hatte einen neuen Freund.
    Im Juni 2005 brachte ein ehrenamtlicher Helfer aus den USA auf seiner ersten Afrikareise Haregewoin einige Spenden und lernte bei ihr Wasihun kennen.
    Der Mann, ein Psychologe Mitte vierzig, der auf sexuelle Traumata in der Kindheit spezialisiert war, stellte fest, dass der Junge unter Störungen litt. Er richtete es so ein, dass er jedes Mal Zeit mit Wasihun verbrachte, wenn er zu Haregewoin kam. Er bat Haregewoin um Erlaubnis, mit dem Jungen Ausflüge in die Stadt und sogar aufs Land machen zu dürfen. Er sagte, er wäre möglicherweise daran interessiert, Wasihun zu adoptieren.
    Im Laufe dieser ausgedehnten Besuche erfuhr der amerikanische Psychologe von Wasihuns Missbrauch, sei es aufgrund von Schlussfolgerungen oder indem er dem Jungen eine Schilderung des Geschehens entlockte. Später erklärte er, dass Wasihun nicht ihm als Erstem davon berichtet hätte, sondern einem anderen Helfer.
     
    Kinder, die von sexuellem Missbrauch berichten, sind bekanntermaßen oft keine verlässlichen Zeugen. In der juristischen und psychiatrischen Fachliteratur finden sich Belege dafür, dass ein Kind, das nie von einem Erwachsenen angefasst wurde, möglicherweise - mit einer gewissen Ermutigung - Geschichten erfindet oder bezeuget, in denen es nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern auch um Hexerei, Folter, erzwungene Abtreibung und/oder Tieropfer geht; Kindergärtner und Tagesmütter in den USA mussten deswegen schon ins Gefängnis.
    Ein anderes Kind wiederum, das tatsächlich missbraucht wurde, schwört möglicherweise, dass nie etwas geschehen ist, weil es sich schämt.
    Der amerikanische Psychologe hatte auf diesem Gebiet Erfahrung und war dazu imstande, das Vertrauen eines missbrauchten Kindes zu gewinnen. Da er sich allerdings in einem fremden Kulturkreis aufhielt, wusste er einiges vermutlich nicht richtig einzuschätzen.
    Er hätte sonst vielleicht vorsichtiger reagiert, als ihm ein junger Äthiopier bereitwillig von homosexuellem Missbrauch berichtete, statt diesen zu verschweigen oder zu verleugnen, wie man es in einem Land, in dem Homosexualität gemeinhin als »Widerwärtigkeit« betrachtet wurde, durchaus erwarten könnte. Das heißt nicht, dass der Missbrauch nicht stattgefunden hatte; es heißt nur, dass man in der Deutung außerordentliche Vorsicht hätte walten lassen müssen, bevor man Dritten davon berichtete.
    Der Psychologe befand sich in einer völlig fremden Umgebung. Er war während einer humanitären Mission auf einen Jungen getroffen, der dieselben Anzeichen von Verzweiflung an den Tag legte wie seine Patienten zu Hause. Er war völlig auf sich gestellt und sah sich gezwungen, zu improvisieren, wenn er dem Jungen helfen wollte.
    Im Sommer und Frühherbst 2005 gelangte der amerikanische Psychologe zu der Überzeugung, dass die Vergewaltigung durch Sirak, von der Wasihun berichtete, kein Einzelfall in Haregewoins Heimen war, sondern dass sie regelmäßig Männern Besuche gestattete, in deren Verlauf die Kinder sexuell missbraucht wurden.
    Wasihun korrigierte die Geschichte dahingehend, dass sie nur von einem Mann Geld nehme, einem Verwandten von ihr, und ihm gestatte, die Kinder zu vergewaltigen.
    Wasihun erzählte dem Psychologen, dass dieser namenlose Verwandte im Laufe vieler Monate viele Jungen vergewaltigt hatte, dann, dass er in zwei aufeinanderfolgenden Nächten jeweils fünf Jungen vergewaltigt hatte, und dann, dass er fünf Jungen in einer Nacht vergewaltigt hatte, dann waren es drei Jungen in zwei Nächten und schließlich drei Jungen in einer Nacht des vorhergehenden Jahres, und dabei blieb er.
    Der Amerikaner gewann den Eindruck, dass die Kinder bei Haregewoin geschlagen wurden und hungern mussten. Er vermutete, dass sie Angst vor ihr hatten. »Ich erkenne ein Trauma, wenn ich damit konfrontiert bin, und diese Kinder sind eindeutig traumatisiert«, sagte er. Er glaubte, Haregewoin führe das Leben einer wohlhabenden Frau in einem »Haus vor der Stadt, das eine halbe Million Dollar wert ist, mit Sauna, Jacuzzi und Dienerschaft« und dass sie das Waisenhaus bloß zur Wahrung des Scheins betrieb. »Der Witz ist doch, dass wir keine Ahnung von dieser Villa haben, in der sie lebt, während die Kinder unter solch armseligen Bedingungen hausen, so blöd sind wir.«
    Wasihuns Bericht hatte ihn dermaßen alarmiert, dass er sich um das Wohlergehen aller Kinder von Haregewoin sorgte. »Die Kinder haben so viel Angst vor

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