'Alle meine Kinder'
sie stolz auf ihren Kleinbus gewesen, den sie mit den Spenden aus Amerika erworben hatte. Sie saß hoch erhobenen Hauptes auf dem Beifahrersitz, drapierte sich ihr Tuch um die Schultern und genoss den kühlen Wind auf ihrem Gesicht und in den Haaren. Aber dann spürte sie die Blicke der Frauen aus dem Viertel, wenn sie durch das Tor fuhr, wie sie ihr unter halb gesenkten Lidern nachstarrten und dachten: Wo ist unser Geld?
»Haregewoin hilft uns nicht«, erzählten mir zwei dieser Frauen. Sie waren HIV-positiv und völlig mittellos. Eine war außerordentlich schön. »Es ist ihre Pflicht, uns zu helfen, und sie tut es nicht.«
»Ich bekomme nie genug zu essen«, sagte eine Frau mit schmalem Gesicht. »Und meine Mutter stirbt.«
Ich dachte, dass es keineswegs Haregewoins »Pflicht« war, ihnen zu helfen. Sie tut das immer noch alles auf Freiwilligenbasis. Keiner unterstützt sie darin, andere zu unterstützen. Sie hat das Geld privat gesammelt; es kommt nicht vom Staat. Sie tut alles, was in ihrer Macht liegt, um zu helfen, aber ihr stehen nur begrenzte Mittel zu Verfügung. Sie kann niemanden aus seiner Armut befreien.
Sie wussten von dem schönen zweistöckigen Haus in der Gojam-Straße; aber sie wussten nicht, dass es als Einnahmequelle dienen sollte (auch wenn Haregewoin damit fast kein Geld mehr machte, seit das Sozialamt so gut wie jede Adoption verhinderte). Sie hatten den Verdacht, dass sie dort ein geheimes Leben im Wohlstand führte. Warum verkauft sie das Haus nicht? , dachten sie angesichts ihres quälenden Hungers, angesichts des Hungers ihrer Kinder.
Ich erkundigte mich bei Haregewoin nach dem Haus in der Gojam-Straße.
»Ich habe es mit Unterstützung einiger europäischer Adoptionsagenturen gemietet«, sagte sie. »Ich schieße für die Miete des Hauses nichts aus den Spenden für die Kinder zu; es läuft über ein separates Konto. Ich habe es auch Leuten von der Behörde gezeigt - ich habe sie eingeladen. Ich wollte ihnen zeigen, auf welchem Weg ich für meine Kinderheime Geld verdiene, und sie waren sehr angetan von dem Projekt.«
Ich erkundigte mich bei Haregewoin nach den Frauen, die vor ihrem Tor standen und sich über sie beklagten und andere dazu brachten, sich auch über sie zu beklagen.
»Ich schicke ihnen mehrmals im Jahr Teff«, erzählte sie. »Ich lade sie an allen Feiertagen ein. Ich habe schon ein paarmal ihre Kinder aufgenommen. Letzten Monat hat mir eine von ihnen ihre Medikamentenrechnung gebracht, und ich habe ihr Geld gegeben, damit sie sie bezahlen kann.« Sie zeigte mir die Quittung.
Niemand hilft den armen Frauen. Niemand. Es gibt kein staatliches oder städtisches Amt, an das sie sich wenden und sagen könnten: »Ich habe Hunger.« In diesem Land gibt es Millionen von Menschen, die nicht genug zu essen für sich und ihre Kinder haben. Mir wurde klar, dass Haregewoin die Einzige war, die jemals ihre Tür für sie geöffnet hatte, die jemals gesagt hatte: »Ich will sehen, ob ich euch helfen kann. Ich werde eine Zeitlang eure Kinder versorgen. Ich will sehen, ob ich eure Stoffe verkaufen kann. Kommt und feiert Weihnachten mit uns.«
Aber sie blieben arm, sie blieben krank und hungrig. Das musste Haregewoins Fehler sein.
Sie stehen nicht vor den Toren der reichen Leute - seien es Äthiopier oder Ausländer -, weil das keinen Sinn hätte. Die Wachleute der Reichen würden sie verjagen. Sie stehen hier und wettern gegen Haregewoin, weil sie sie hört.
Ebendiese Frauen schätzen mich, weil ich ihnen helfe, wenn ich zu Besuch komme. »Sie sind meine Mutter!«, rufen sie mir zu und küssen meine Hände, selbst wenn ich murmle, dass sie meine Hände nicht zu küssen brauchen und oh, oh, bitte , nicht auf den Boden werfen und meine Füße küssen. »Mama!« nennen sie mich (selbst Frauen meines Alters nennen mich so); es ist die Anrede, mit der sie ihre Hochachtung und ihren Dank ausdrücken, und es ist auch die Anrede, mit dem sie in mir ein dauerhaftes Gefühl der Verantwortung für sie wecken wollen.
Aber irgendwann wurde mir klar, wenn ich das ganze Jahr über in Addis Abeba leben würde, würden auch vor meinem Tor zornige, verbitterte, hungrige, kranke Frauen mit verkniffenen Lippen stehen und sagen: »Sie hilft uns nicht. Sie hat die Pflicht, uns zu helfen, und sie tut es nicht. Wenn sie uns wirklich helfen wollte, könnte sie ihre Koffer verkaufen, ihre amerikanischen Kleider und ihre Kamera und ihre Sonnenbrille.« Das bleibt mir im Gegensatz zu Haregewoin erspart,
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