'Alle meine Kinder'
ihr, dass sie sich nicht zu essen trauen«, sagte er. »Selbst wenn das Essen vor ihnen steht, warten sie auf ein Zeichen von ihr, dass sie anfangen dürfen. Und während des Essens gucken sie immer wieder zu ihr hin, als ob sie sie fragen wollten, ob sie zu viel aßen.«
»Es gibt ein kleines Kind, dem sie beigebracht hat, wie ein Hund zu betteln«, sagte er. »Sie ruft das Kind, es kommt angelaufen, faltet seine Hände und bettelt. Erst dann gibt sie ihm etwas zu essen.«
»Sie erlaubt den Kindern nicht, in die Schule zu gehen«, berichtete er.
»Sie kümmert sich nicht darum, dass die Kinder Medikamente bekommen, wenn sie krank sind.«
Wie eine Schlange glitt die Geschichte überallhin, häutete sich Tag für Tag und sah danach jedes Mal ein wenig anders aus.
Der Psychologe war überzeugt, dass Haregewoin bereits Vorkehrungen für ihre Flucht traf.
Er gelangte zu der Überzeugung, dass Haregewoin einen Anschlag auf ein Kind plante: »Sie hat ihren Neffen damit beauftragt, eines der Kinder umzubringen.«
Die Geschichte, die gleichzeitig erschreckend und lächerlich war, ließ sich kaum bestätigen.
Er bemerkte, dass sie den Kindern frische Sachen zum Anziehen gab, bevor Besucher kamen. Das konnte von guten Manieren zeugen, aber genauso gut konnte es auf eine Verschleierung der schlechten Versorgung hinweisen.
Der Amerikaner erklärte: »Mein Freund und ich haben zwei Ziegen für das Neujahrsfest am elften September gestiftet. Als wir im Hof saßen, sahen wir, dass nur eine der Ziegen gegessen wurde.«
Auf die Frage, was aus der anderen Ziege geworden sein soll, sagte er: »Ich bin überzeugt, dass sie sie verkauft und das Geld in die eigene Tasche gesteckt hat. So wie sie das gesamte gebrauchte Spielzeug, die Bücher und die Kleidung verkauft hat, die wir gespendet haben.«
Als er gefragt wurde: »Sie haben also gesehen, dass siebzig Kinder ein Festmahl aus Ziegeneintopf gegessen haben, und können mit Gewissheit sagen, dass der Eintopf mit dem Fleisch von nur einer Ziege zubereitet wurde?«, antwortete er: »Ja, das hat mir mein äthiopischer Freund gesagt.«
( Zuerst Kinderhandel und jetzt das !, dachte ich, als ich davon hörte. Ziegenhandel! Ob die Ziege wohl schon auf dem Weg zu ihren neuen spanischen Eltern ist? )
Während die Geschichte von Wasihun in der Zeit, die er mit dem amerikanischen Psychologen verbrachte, immer länger und verworrener wurde, tat der Amerikaner alles, was in seinen Kräften stand, um die Behörden auf die möglicherweise ständig stattfindenden Misshandlungen von Haregewoins Kindern aufmerksam zu machen. Er erzählte jedem, der es hören wollte, von Schlägen, mangelhafter Ernährung und sexuellem Missbrauch. Er sagte, er wolle die wahre, die tatsächliche Geschichte an die Öffentlichkeit bringen.
Auf dem Sozialamt stieß er auf offene Ohren.
Er brachte Wasihun zu einem Kinderarzt, und man nahm einen Bluttest vor. Der Test ergab, dass Wasihun HIV-negativ war. Da seit dem Vorfall inzwischen einige Zeit vergangen war, gab es keine Hinweise auf die angebliche Vergewaltigung mehr. Er brachte Wasihun allerdings nicht zu einer Nachuntersuchung in die Klinik, wie es der Kinderarzt empfohlen hatte.
Der Besucher aus Amerika hatte gute Absichten, und er war empört. Er war in Afrika über das Herz der Finsternis gestolpert, so schien es, und wollte etwas dagegen unternehmen. »Ich bin ein klinischer Psychologe, der mit missbrauchten Kindern arbeitet, und diese Frau hat mich furchtbar wütend gemacht«, sagte er.
Seine Verdächtigungen fanden ihren Weg ins Internet, wo sie seither ihre Kreise ziehen, unvergängliche Satelliten im Cyberspace.
Der Psychologe aus dem Nordwesten der USA war im Sommer und Herbst des Jahres 2005 allerdings nicht der einzige Besucher bei Haregewoin. Es gab viele andere, von denen einige offiziell Bericht erstatteten, eine Frau machte sogar ein Video.
Diese Besucher (von denen die meisten unangemeldet auftauchten, um zu verhindern, dass Vorkehrungen getroffen wurden) kamen im Auftrag verschiedener internationaler Nichtregierungsorganisationen, um die Verhältnisse zu überprüfen. Es gehörte zur allgemeinen Sorgfaltspflicht, dass die Versorgung und der Zustand der Kinder in den Atetegeb-Worku-Kinderheimen bewertet und dokumentiert wurden, bevor man ihnen Gelder zukommen ließ.
Das Video, das am 5. September 2005 spontan entstand, wurde von einer äthiopischstämmigen Amerikanerin mittleren Alters während eines ihrer seltenen Aufenthalte in
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