'Alle meine Kinder'
Fotos von ihnen machte. Sie waren sauber und anständig angezogen. In dem Zimmer, in dem sie sich aufhielten, stand ein Regal mit Büchern und Spielzeug, und an den Wänden hingen bunte Poster mit den Buchstaben des Alphabets. Erneut durfte ich Haregewoin gratulieren, wie schön und gut ausgestattet die Einrichtung war …
Anfang Oktober 2005 absolvierte ein europäischer Vertreter einer internationalen Kinderhilfsorganisation zwei unangekündigte Besuche in den beiden Einrichtungen von Haregewoin. Alarmiert von den Vorwürfen, die gegen Haregewoin erhoben worden waren, nahm er Kinder beiseite, um sich unter vier Augen mit ihnen zu unterhalten, und bat sie, ihre Gefühle in Zeichnungen auszudrücken. Auch sein Bericht, datiert auf den 7. Oktober 2005, fiel positiv aus. Er kommt zu dem Schluss:
Die Zeichnungen und Gedichte der Kinder ebenso wie die Vieraugengespräche mit acht willkürlich ausgewählten Kindern ergeben keinen Hinweis auf Missbrauch oder körperliche Züchtigungen durch einen Bewohner/Angestellten/freiwilligen Helfer innerhalb des Waisenhauses... Zwei Sätze fassen die Erfahrungen der Kinder für mich zusammen: »Sie (die Leiterin des Waisenhauses) kümmert sich um uns, so gut sie kann. Es ist nicht alles perfekt hier, aber sie gibt uns alles, was in ihrer Macht steht.«
Andere potenzielle Spender ließen sich von den Behauptungen des amerikanischen Psychologen und des Sozialamts, dass mit dem Heim von Haregewoin Teferra etwas ganz und gar nicht in Ordnung sei, jedoch beeinflussen, zogen sich teilweise - wie eine italienische Organisation, die zugesagt hatte, für den Unterhalt von drei der HIV-positiven Kinder aufzukommen - zurück und lehnten jeden weiteren Kontakt mit Haregewoin ab. In ihrem letzten Brief schrieb die italienische Organisation, dass sie ihr Versprechen halten würde, wenn die HIV-positiven Kinder, die sie ausgesucht hatte, sofort in einer anderen Einrichtung untergebracht würden und diese Einrichtung mit ihnen Kontakt aufnähme.
Haregewoin las den Brief, seufzte und legte ihn zu den Akten. »Es gibt keine andere ›Einrichtung‹ für diese Kinder«, sagte sie. »Was glauben die Italiener eigentlich, wer sie nehmen soll?«
In dieser Zeit wurde Wasihun von dem äthiopischen Freund des amerikanischen Psychologen zum Ministerium für Arbeit und Soziales begleitet, um Beschwerde gegen Haregewoin Teferra einzureichen. Das Sozialamt sammelte jetzt also in zwei Fällen Beweise gegen sie - der angebliche Kinderhandel mit der kleinen Tarikwa und der sexuelle Missbrauch von Kindern in ihrem Heim. Einige Adoptionen wurden genehmigt, aber die meisten der Kinder wurden zurückgehalten. Aus ganz Amerika trafen E-Mails ein, in denen diskret - oder weniger diskret - nach den Vorwürfen wegen Kinderhandels gefragt wurde. Familien, deren Adoptionspläne auf Eis lagen, beklagten sich im Internet über ihre ungewisse Situation, und Adoptionsagenturen versicherten, dass sie von Haregewoin in Zukunft keine Kinder mehr nehmen würden. Und die armen Frauen vor ihrem Tor beschuldigten sie, dass sie ihnen nicht helfen würde.
Haregewoin, die nun also von allen Seiten, wenn auch zumeist verdeckt, unter Beschuss stand, fühlte sich hilflos und verlassen und betete: »Gott, ich weiß, dass ich mich schuldig gemacht habe, aber ich weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen kann.«
Eines Nachts schließlich, als sie sich in das Bett legte, in dem ihre geliebte Nardos schlief, sah sie sie an und flüsterte: »Ich muss dich gehen lassen.«
49
Der äthiopische Vertreter der spanischen Adoptionsagentur kehrte mit drei Adoptivmüttern zu Haregewoin zurück. Sie waren nervös und aufgeregt. Sie trugen Jeans, Rucksäcke und weiche Lederslipper.
Zweien davon waren kleine Jungen versprochen worden.
Die dritte Frau war gekommen, um Nardos abzuholen. Haregewoin hatte den Mann angerufen, der das örtliche Büro der italienischen Adoptionsagentur leitete, und gesagt: »Sie können jetzt nach einer Familie für Nardos suchen.«
Eine gute Familie , hatte sie noch hinzufügen wollen, aber dann hatte sie angefangen zu weinen und schnell aufgelegt.
Eine der Spanierinnen zog ein kompliziertes Geschirr aus Baumwollbändern und Schnallen hervor; sie legte es sich über die Schultern und steckte ihren neuen Sohn hinein. Er hing mit weit von sich gestreckten Ärmchen und Beinchen in dem Tragegurt und sah etwas verwundert drein, als sie ihn auf den Scheitel küsste. Eine der anderen Mütter saß auf der Treppe des
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