'Alle meine Kinder'
Haupthauses, nahm ihren neuen Sohn auf den Schoß und schlug seine Babydecke zurück, um seine winzigen Zehen und Finger zu bewundern.
Die dritte Frau stand etwas abseits und wartete darauf, dass man ihr Nardos vorstellte. Sie war Ende dreißig, die schwarzen Haare hingen ihr in Fransen ums Gesicht; sie trug eine modische Brille mit einem schmalen Kunststoffgestell, eine ärmellose Bluse mit V-Ausschnitt und hatte einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht, was vielleicht daher rührte, dass sich die Augenbrauen über dem Brillenrand wölbten.
Das ist nicht das, was ich wollte! , dachte Haregewoin voller Panik. Sie haben mir gerade gesagt, dass sie nicht verheiratet ist. Sie hält eine Zigarette in der Hand - das heißt, dass sie nicht gläubig ist! Ich wollte eine junge gläubige Familie für Nardos. Jedenfalls nicht diese Frau.
Der Skandal um Sirak hatte Haregewoin sehr mitgenommen, und sie war in ständiger Sorge, dass die Gerüchte sich verbreitet hatten und eines Tages die Behörden bei ihr auftauchen und sie anklagen könnten. Nach außen hin gibt sie sich den Anschein einer tiefreligiösen Frau , würden die Zeitungen schreiben, und doch ließ sie es zu, dass ihre Waisenkinder das Opfer perverser Handlungen wurden . Warum sollte die unschuldige Nardos dazu verurteilt sein, bei ihr, einer närrischen alten Frau, zu bleiben?
Und da war nun also diese Frau, Nardos’ neue Mutter.
Die Frau aus Spanien hatte Nardos neue Kleider mitgebracht. Als sie in Haregewoins Zimmer waren, erlaubte Nardos der Frau, dass sie die Knöpfe ihres Kleidchens öffnete und ihr beim Anziehen der neuen Sachen half. Nardie sah immer wieder über die Schulter der Frau zu Haregewoin, die niedergeschlagen auf dem Bett saß; das Kind wollte, dass Haregewoin während dieser merkwürdigen Transaktion in der Nähe blieb.
Aber so zieht man doch kein kleines Mädchen an! , dachte Haregewoin, und fühlte sich in ihrer Antipathie gegenüber der Frau aus Spanien bestärkt. Braune Hosen mit Aufschlag? Eine grüne Steppjacke? Das ist doch alles viel zu dick und schwer. Das sind Sachen für einen Jungen!
Nardos, die nicht wusste, dass mit ihren neuen Kleidern etwas nicht stimmte, lief von der Frau weg und auf die Veranda. Wie gewohnt bekam sie viele Komplimente zu hören; an diesem Tag auf Amharisch und Spanisch.
Haregewoin rief Nardie zurück ins Haus, kniete sich neben sie auf den Boden des Schlafzimmers und half ihr, die neuen Sachen wieder auszuziehen. Aus einer speziellen Schachtel unter dem Bett holte sie Nardos’ schönstes Kleid hervor: ein traditionelles weißes äthiopisches Kleid und ein Tuch mit Spitzenbesatz, beides in Seidenpapier eingeschlagen. Sie kniete vor Nardos und zog und zupfte an dem Kleid herum, bis es perfekt saß und die Kleine wie eine winzige Braut, eine Perle aussah.
Jetzt führte sie Nardos auf die Veranda, wo Nardos von noch lauteren Ovationen empfangen wurde als zuvor in den Kleidern der Spanierin. Haregewoin hielt das zweijährige Kind an der Hand und führte es die Betonstufen hinunter bis in die Mitte des Hofes. Nardos schwebte anmutig wie ein weißer Schmetterling neben ihr her.
Es ist noch früh am Tag, oder? , dachte Haregewoin ängstlich. Sie ließ Kaffee zubereiten, sie ließ Popcorn zubereiten, sie ließ für alle Stühle nach draußen bringen und schenkte dem Zögern der Spanierinnen bei jeder neuen Einladung keine Beachtung. Sie wusste, dass die Frauen aufbrechen wollten, und tat so, als würden sie ihre Einladung aus Bescheidenheit ausschlagen oder weil sie nicht wussten, was sich gehörte.
Sie rief nach den Betreuerinnen und sogar nach dem Buchhalter - einem ergrauten Geschäftsmann -, damit sie herauskamen und die kleine Nardos bewunderten. Sie sah, dass die Spanierinnern verstohlen auf ihre Armbanduhren blickten; sie sah die besorgten Blicke, die sie dem Agenturvertreter zuwarfen.
Sie saß auf den Stufen ihres Hauses und gab sich alle Mühe, fröhlich zu wirken, zu lächeln und laut zu lachen. Nardos trug mit ihrem Kinderstimmchen ein Lied vor, unterstützt von Haregewoin, die klatschte und mitsang. Sie blickte erwartungsvoll zu den anderen, darauf bedacht, dass alle Nardos’ Vortrag genossen. Wir haben so viel Spaß miteinander! Lasst uns noch ein wenig beisammen sein und nicht gleich auseinandergehen. Es ist doch erst zwei Uhr. Wenn sie glaubte, dass niemand es sah, blinzelte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren.
Es ist erst Viertel nach drei.
Es ist noch nicht einmal
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