'Alle meine Kinder'
den Massenverhaftungen zufällig mit eingesammelt worden waren. Die Gefängnisse waren voll von Schülern, von denen viele nicht älter als fünfzehn, sechzehn Jahre waren. Familien klagten, dass sogar noch jüngere Kinder verhaftet worden waren.
Tigist rief die Freunde von Haregewoin an, und diese informierten Suzie.
Suzie flog von Kairo nach Hause, um ihrer Mutter beizustehen, während alte Freunde sich an das kebele wandten, um gegen die Widersinnigkeit von Haregewoins Verhaftung zu protestieren. Wer von ihnen Beziehungen hatte, wandte sich an die ranghöchsten Beamten, die er kannte, um Informationen zu bekommen und ihr zu helfen.
Sie erfuhren, dass man Haregewoin als Zeugin festgenommen hatte - was nach äthiopischem Recht möglich war -, bis man Sirak gefunden und vor Gericht gebracht hatte.
Die Betreuerinnen aus dem Kinderheim eilten ihr nun zu Hilfe, betroffen von dem, was passiert war, und voller Angst, welche Folgen das Gefängnis auf Haregewoins Gesundheit (in ihrem Alter!) haben könnte. Offenbar hatte sich das Problem mit ihren Löhnen mittlerweile gelöst. Die Betreuerinnen und die ältesten Mädchen saßen in Haregewoins Wohnzimmer auf den Sofas und Sesseln mit dem Leopardenfellmuster, rangen die Hände und weinten. Der Buchhalter und ein älterer Anwalt, die Haregewoin bei dem Papierkram geholfen hatten, und ein junger Verwalter, der für das Haus der HIV-positiven Kinder zuständig war, durchkämmten die Straßen auf der Suche nach Sirak. Sie hatten ihn schon bald gefunden, da er nicht einmal das Viertel verlassen hatte, und informierten die Polizei über seinen Verbleib. Sirak wurde verhaftet. Suzie, Henoks Mutter Tigist, der Anwalt, der Buchhalter, die Betreuerinnen und die älteren Kinder versammelten sich in dem größeren Haus und warteten auf Haregewoins Freilassung, bereit, ein Fest für sie zu veranstalten. Da Sirak gefunden worden war, sollte sie eigentlich nicht länger als eine Art Geisel festgehalten werden.
Aber sie wurde nicht freigelassen.
Es waren Wochen der Ungewissheit; welcher Äthiopier hatte nicht einen Verwandten oder guten Freund, der zu dieser Zeit im Gefängnis saß? Gut, bei den meisten war es keine Großmutter , aber viele Leute liefen ständig zwischen Gefängnis und Polizei hin und her, um die Freilassung eines Familienmitglieds zu erwirken.
Haregewoin wartete in ihrer Zelle darauf, dafür verurteilt zu werden, dass sie die angebliche Vergewaltigung von Wasihun nicht gemeldet hatte.
Die einflussreichste unter ihren alten Freundinnen erreichte einen hochrangigen Bekannten im Justizministerium. »Wer hat diese Frau ins Gefängnis gesteckt?«, fragte Haregewoins Freundin. »Gibt es denn in Äthiopien gar keine Gerechtigkeit?«
Sie erfuhr Einzelheiten: Gegen Haregewoin war eine Untersuchung wegen Kinderhandels eingeleitet worden.
»Wie geht es dir, Mutter?«, rief Suzie, als man sie auf den Polizeihof ließ, damit sie mit Haregewoin sprechen und ihr einen Teller mit Essen durch den Zaun reichen konnte.
»Es sind alle sehr freundlich zu mir«, sagte Haregewoin. »Ich wollte nicht, dass man dir Bescheid gibt, damit du dir keine Sorgen machst. Die Polizisten sind nett, es sind gute Männer. Sie lassen uns tagsüber frei im Haus herumgehen - das Zimmer hat nicht einmal ein Schloss! Es gibt keine Gitterstäbe am Fenster. Und in meinem Zimmer ist ein Mädchen mit einer sehr schönen Stimme, die abends immer für uns singt. Aber es sind so viele Menschen hier! Ich habe dir die Namen von ein paar Leuten aufgeschrieben - würdest du ihre Familien anrufen und ihnen sagen, dass sie hier sind und dass es ihnen gut geht?«
Haregewoin schlief nachts und an den Nachmittagen tief und fest; sie hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel geschlafen; es war, als besuchte sie einen der himmelblauen Seen und die frühlingsgrüne Landschaft ihrer Kindheit. Sie träumte in lebhaften Farben, und die Gesichter all ihrer Lieben aus Vergangenheit und Gegenwart erschienen ihr. Sie ruhte sich aus; sie saß auf ihrem Feldbett, blickte aus dem Fester auf die Bäume am anderen Ende des staubigen Hofs und dachte nach. Sie erholte sich. Sie hörte, wie die jungen Leute nachts weinten, aber sie weinte nicht. Es lagen Zeitschriften und ein paar Bücher und Zeitungen herum, aber sie las und schrieb nicht. Sie nahm nur wenig von dem Essen, das man ihr gab, und trank viel Wasser. Sie wollte weder Tee noch Kaffee. Sie kam langsam zu sich, kam langsam zur Ruhe. Sie saß still da; sie beobachtete, wie die
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