'Alle meine Kinder'
halb fünf.
Sie konnte ihre Hände nicht von Nardos lassen. Nardie strahlte; Nardie war ein Engel mit Flügeln aus Taft und Spitze, der sich für einen Moment in diesem bescheidenen Hof niedergelassen hatte und bald schon davonfliegen würde. Haregewoin folgte Nardos in gebührendem Abstand; sie bückte sich, um Nardies weißen Rock und das Tuch zurechtzuzupfen; sie presste ihr Gesicht gegen den warmen Hals und die gerötete Wange. Langsam und mit kleinen Schritten lief sie hinter Nardos über den Hof; und während die Stunde näherrückte, in der ihr gemeinsames Leben enden würde, alterte sie um zehn Jahre.
Die Frau aus Spanien schnappte sich Nardos für einen Moment und zog ihr das feine äthiopische Kleid aus. Entschlossen kleidete sie Nardos wieder wie einen spanischen Jungen und machte sie reisefertig.
Der äthiopische Fahrer der spanischen Agentur trat aus dem Tor und ließ seinen Wagen an, als müsse der Motor warm laufen. Die beiden Frauen, die die kleinen Jungen adoptiert hatten, verabschiedeten sich freundlich von allen und stiegen in das Fahrzeug.
»Kommt! Kommt alle her! Kommt und sagt Nardos auf Wiedersehen!«, rief Haregewoin, verzweifelt bemüht, den Abschied noch etwas hinauszuzögern.
Der Buchhalter trat in seinen spitzen Lederschuhen noch einmal aus dem Haus, und die Betreuerinnen eilten zurück in den Hof. Nardos wurde von Arm zu Arm gereicht, mit Abschiedsküssen überschüttet, bis es ihr zu viel wurde und sie zu weinen begann und die Arme nach Haregewoin ausstreckte.
Haregewoin umarmte sie, vergrub ihr Gesicht in Nardos’ Halsbeuge, atmete tief ihren Geruch ein; der Buchhalter entwand ihr die Kleine, und Nardos fing wieder zu heulen an, und vielleicht brauchte Haregewoin genau das: dass Nardos begriff und verstand. Damit sie nicht allein mit ihrer Trauer war.
Plötzlich war Nardos wieder in Haregewoins Armen, und Haregewoins Gesicht verzog sich voller Schmerz.
Währenddessen hielt die spanische Mutter höflich Abstand. Sie wollte Haregewoin nicht daran hindern, Abschied zu nehmen; nur war es allmählich genug. Es war an der Zeit.
Der Buchhalter nahm Nardos erneut aus Haregewoins Armen, und Haregewoin brach in Tränen aus. Als Nardos die Tränen ihrer Mutter sah, stimmte sie aus Solidarität in ihr Weinen ein; der Buchhalter legte sie sich sanft über die Schulter - irgendjemand musste es ja machen - und trat mit ihr vor das Tor. Haregewoin blieb im Durchgang stehen und sah zu, wie die weinende Nardos auf dem Autositz festgeschnallt wurde. Dann war der Wagen verschwunden. Als sich Haregewoin umdrehte, sah sie Nardos kleines weißes Kleidchen auf den Verandastufen liegen, so als habe sich das Kind in Luft aufgelöst.
Haregewoin lief die wenigen Stufen in ihr Zimmer hoch, bevor sie jemand sehen konnte.
Mit leerem Blick setzte sie sich auf ihr Bett.
Allein .
50
Als Mitte Dezember 2005 die Polizei kam, um Haregewoin Teferra zu verhaften, brachte sie nicht einmal mehr die Energie auf, sich dagegen zu wehren.
»Können wir das bitte so über die Bühne bringen, dass sich die Kinder nicht aufregen?«, fragte sie.
Sie erlaubten ihr, Notizbuch, Handy und Tuch mitzunehmen. »Pass auf alles auf«, sagte sie zu Tigist, der Mutter von Henok, und ging hoch erhobenen Hauptes zwischen zwei Polizisten zum Tor hinaus. Einer von ihnen öffnete die hintere Tür des Polizeiautos, und Haregewoin stieg unter den neugierigen Blicken der Umstehenden ein. Man fuhr sie durch ein stählernes Tor in den staubigen Hof eines Polizeireviers. Das Polizeirevier befand sich in einem ehemaligen Wohnhaus, und man brachte sie in eines der Schlafzimmer, wo mehrere Frauen gegen die weißgetünchten Wände gelehnt auf Feldbetten saßen. Man ließ ihr die Handtasche und das Handy und verriegelte auch die Tür nicht.
Keiner sagte ihr, warum sie hier war, aber sie konnte es sich denken.
Später bestätigte sich, dass ihre Verhaftung aufgrund der Beschwerde erfolgt war, die Wasihun im September eingereicht hatte.
Sie hatte das Gefühl, dass Gott seine schützende Hand von ihr genommen hatte, und akzeptierte die Verhaftung als verdiente Strafe. Im Gefängnis betete sie: »Gott, ich weiß nicht, was ich getan habe, aber ich weiß, dass ich etwas getan habe und dass du mich bestrafen willst. Demütig nehme ich die Bestrafung entgegen.«
Im Dezember 2005 waren die Untersuchungsgefängnisse und Haftanstalten überfüllt mit politischen Gegnern, Oppositionsführern, Journalisten, Demonstranten und Schaulustigen, die bei
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