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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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sie sich überhaupt mit ihnen verständigen können?
    Es ist etwas Wunderbares, in der Dämmerung in niedriger Höhe über Afrika dahinzuschweben: die silbrig weißen Wüsten Ägyptens und des Sudans sehen aus wie eine Mondlandschaft. Wie können Menschen hier überleben? Wo finden hier ihre Kamele auch nur hin und wieder eine Distel, die ihnen als Nahrung dient? Dann wendet man sich wieder ab, oder man blickt erneut auf die glänzenden Seiten mit der Landkarte vor sich und stellt fest, dass nicht der ganze Kontinent so farblos wie der Norden ist; südlich der Sahara und der Sahelzone erstreckt sich eine grüne Landschaft wie eine Schürze aus Gras. Sie ist im Westen am Senegal festgesteckt, bedeckt Nigeria und die Zentralafrikanische Republik in der Mitte, fällt dann auf Wadenlänge bis zur Kalahari-Wüste hinunter und zieht sich im Osten wieder hinauf bis nach Äthiopien.
    Dann sinkt man viel früher, als man dachte, vom Himmel hinunter auf die Erde und landet auf einem modernen Flughafen aus Stahl und Glas in einer Stadt hoch oben in den Bergen, eine Art Mezzanin zwischen Wüste und Himmel.
     
    Die wunderbaren Kinder von Addis Abeba bereiteten Claudia einen herzlichen Empfang: wo sie auch ging und stand, versammelte sich eine Schar aufgeweckter Kinder um sie herum, die ihr die Hand schütteln und ihre Englischkenntnisse erproben wollten. »HallowiegehtesIhnen?«, riefen ihr die Kinder auf der Straße entgegen, sobald sie ihre langen blonden Haare in der Sonne aufleuchten sahen.
    »Mir geht es gut. Wie geht es dir?«, erwiderte sie lächelnd zur größten Begeisterung der Kinder, die sich kichernd die Hand vor den Mund hielten und davonrannten, um ihren Freunden und ihrer Familie von der erfolgreichen Begegnung mit einer richtigen Exotin zu berichten.
    Im Layla House von AAI drängten sich kichernde kleine Mädchen um sie, fasziniert von dem goldenen Glanz ihrer Haare. Sie führten sie zu einem Küchenstuhl im Hof und machten sich daran, die feinen Strähnen zu kämmen und zu flechten. Diejenigen, die schon eine neue Familie hatten, holten ihre Fotoalben, um sie ihr zu zeigen und zu fragen: »Kennen Sie meine Mutter?« oder »Kennen Sie mein Seattle?« Die älteren Jungen und Mädchen führten mit ihr ernsthafte Gespräche auf Englisch. Sie wollten wissen, was sie von Präsident Bush hielt und von dem Krieg im Irak und warum ihrer Meinung nach die Amerikaner bei der Fußballweltmeisterschaft so schlecht abschnitten. Als sie aufstand und über den Hof ging, hängten sich auf jeder Seite zwei oder drei Kinder an ihre Hand; andere liefen voraus in den Speisesaal, um einen Platz für sie zu reservieren.
    Dann flog Claudia wieder nach Hause, zurück in ihr Farmhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert im Champlain Valley in Vermont. In der Abstellkammer lehnten Skier an der Wand; überall lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften. An den langen Winterabenden zündeten sie und Rob ein Feuer im Kamin an und tranken Tee aus Tonbechern; im Hintergrund lief Musik von Bob Dylan oder The Band oder Bob Marley oder der Blueslegende Robert Johnson. Fichten, Birken und Ahornbäume warfen ihre Schatten auf das Haus; auf der anderen Seite der Straße lagen eine Weide und ein Heuschober; hin und wieder wanderte nachts ein Elch vorbei und hinterließ tiefe Spuren im Schnee.
    Claudia sprach davon, noch einmal nach Addis Abeba zu fliegen und mit einem Kind in das Haus in Middlebury zurückzukehren, und Rob erklärte sich einverstanden. Sie füllten die Formulare von AAI aus, reichten die für die Adoption eines Waisenkindes nötigen Einwanderungsformulare ein, ließen Bluttests machen, sich impfen, ihre Fingerabdrücke abnehmen und Befragungen über sich ergehen, und schließlich fand man für sie ein zehnjähriges Mädchen namens Meskerem (Haregewoins Meskerem) mit einem intelligenten Gesicht und wunderschönen dichten Augenbrauen.
    Ihre Kollegen und andere Eltern und Lehrer und Nachbarn waren fassungslos: eine Zehnjährige ? Aus Afrika ? Einige meinten, sie hätten nicht gewusst, dass sich das Paar so verzweifelt nach weiteren Kindern sehnte. Rob und Claudia konnten nicht genau erklären, was was in ihnen vorgegangen war. Sie liebten ihre Söhne über alles; sie unterrichteten beide, waren Erwachsene, denen viel an Kindern lag; und dann waren sie auf ein Land voller Waisen gestoßen. Plötzlich ging für sie die Gleichung auf, auch wenn das ihren Freunden reichlich verrückt vorkam.
    Natürlich fragten sie sich wie alle zukünftigen

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