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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Sonne über den Hof wanderte; sie beobachtete, wie sich die struppigen Pinien steif im Wind bewegten. Da sie so klein war, ragten ihre bloßen Füße in die Luft und berührten nicht den Betonboden, wenn sie mit dem Rücken an der Wand auf dem Feldbett saß. Wenn sich die Frauen in dem Zimmer unterhalten wollten, redete sie ein bisschen mit ihnen; manchmal seufzte sie nur, zuckte die Schultern und lächelte schwach zur Antwort. Nachts reckte sie den Hals, um den Nachthimmel durch das Fenster sehen und die Sternbilder beobachten zu können, die sich im Zeitlupentempo über den Hof bewegten. Haregewoin betrachtete ihr Leben aus weiter Ferne, hinter einem Stacheldrahtzaun, Pinien und Wachtürmen hervor.
    Was sie sah, war Folgendes: Instinktiv war sie zurückgezuckt, als Sirak Wasihun angegriffen hatte, und dann in die falsche Richtung geflohen.
    Sie hätte zu dem Jungen gehen und ihn trösten sollen; sie hätte die Polizei und einen Arzt rufen sollen. Vielleicht hatte eine Vergewaltigung (Penetration hieß es, wie sie jetzt wusste) stattgefunden, vielleicht auch nicht; aber auf jeden Fall hätte sie etwas tun sollen, um das verletzte und verängstigte Kind zu beschützen.
    Stattdessen hatte sie instinktiv sich selbst, ihre Organisation, ihren guten Namen und ihr Geld geschützt.
    Wasihun hatte recht gehabt, als er ihr vorwarf: »Du bist nicht meine Mutter!«
    Nun, da sie weggesperrt war von den Kindern - Kinder, die sich an andere um Liebe und Schutz wandten -, empfand sie wieder so für sie, wie sie ganz zu Beginn empfunden hatte, als Medical Missionaries of Mary ihr Selamawit und Meskerem übergeben hatte. Kinder bedeuteten das Leben schlechthin. Mit ihnen ließ sich kein Einkommen erzielen, sie bildeten nicht die Grundlage eines bedeutsamen Lebens; weder förderten sie Haregewoins Ruf, noch schmälerten sie ihn; man legte sie nicht in ihre Einfahrt, damit sie ihr auf ihren wichtigen täglichen Ausgängen auflauerten; die Kinder wussten nichts davon, dass sie die Nutznießer all der guten Taten ihrer wohltätigen Einrichtung waren oder dass sie Teil einer weithin beachteten Privatinitiative waren. Sie hatten keinen blassen Schimmer davon, dass ihre kleinen Namen, in Zahlen übersetzt, in den Statistiken verschiedener internationaler Organisationen auftauchten. Sie hatten eine Mutter gebraucht, und sie war ihre Mutter gewesen, und das hatte genügt.
     
    Mit Tränen in den Augen wurde ihr bewusst, dass es ihr egal war, ob sie das schöne Haus in der Gojam-Straße jemals wiedersah; wenn die Polizei sie freiließ, würde sie barfuß unter dem bestirnten Himmel die unbefestigte Straße hinunterlaufen und zu ihren beiden kleinen Kinderheimen eilen. Die Kinder darin waren Leben, das eigentliche Leben, die Essenz und die Süße und der Irrsinn des Lebens. Ohne die Kinder in den beiden Heimen hatte sie kein Leben. Sie wollte kein anderes Leben als dasjenige, das sie gemeinsam mit ihnen inmitten von Lärm und feuchten Küssen, zerbrochenen Fensterscheiben und strampelnden kleinen Füßen in ihrem Bett führte.
    Dabei sah es so aus, als sollte dieses Leben nicht mehr lange währen.
    Suzie erfuhr, dass das Sozialamt Vorkehrungen traf, Haregewoins Heime zu schließen. Es war geplant, die Kinder auf Dauer woanders unterzubringen. Während Haregewoin noch im Gefängnis saß, wurden die Betreuerinnen in beiden Häusern angewiesen, die Kinder auf den Umzug vorzubereiten; im Enat-Haus (das jetzt AHOPE hieß) wies man den Leiter an, Platz für dreißig HIV-positive Kinder zu schaffen. (»Wissen Sie eigentlich, wie wenige Waisenhäuser im ganzen Land HIV-positive Kinder aufnehmen?«, rief einer der äthiopischen Vorstände von AHOPE. »Und Sie wollen eines davon schließen? Wer soll so etwas begreifen? Wir haben hier weiß Gott keinen Platz für sie.« 135 ) Anderen Waisenhäusern gab man Bescheid, dass Haregewoins gesunde Kinder zu ihnen gebracht werden würden.
    Viele Leute, sowohl Amerikaner als auch Äthiopier, fragten sich, wer Haregewoin in diesem Moment war: die Güte in Person mit einem Hang zur Willkür; ein Mensch voller guter Absichten, die unter Erschöpfung, dem Alter und vielleicht ein wenig zu viel Stolz gelitten hatten.
    Fest stand, dass einige Organisationen - WWO mit seiner Kinder-Aids-Klinik, AAI mit dem Layla House, AHOPE, Wide Horizons for Children mit seinem Waisenhaus - die Standards zur Versorgung von Waisen hoben. Waisenkinder konnten ein gesundes und fröhliches Leben führen und durch die Schule und Kunst und

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