'Alle meine Kinder'
Sport am normalen Leben teilhaben. Haregewoin war eine heldenhafte Retterin von Waisen. In einem krisengeschüttelten Land brachte sie Kinder hinter ihren Toren in Sicherheit. Wie nur wenige andere Menschen nahm sie sich der hoffnungslosen Fälle an. Vielleicht war sie auf ihrem Kreuzzug zur Rettung von Leben in eine Sackgasse geraten: Sie konnte Leben retten, wusste aber nicht, wie sie mit so vielen Kindern die Leistungen ihrer Einrichtung wesentlich verbessern sollte. Aber es blieb dabei, sie hatte kein Leben ohne die Kinder. Sie lebte mitten unter ihnen, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
»Ich nehme es an, Gott, ich nehme dein Urteil an, ich weiß, ich verdiene es.« Haregewoin weinte in ihrem Bett im Gefängnis, von Trauer überwältigt. »Bitte, Gott, lass mir ein paar von ihnen. Ich weiß, ich habe dein Vertrauen enttäuscht, aber ich bitte dich dennoch inständig darum.«
Teil 4
51
Vielleicht könnte man auf einer Weltkarte eine weitere Strecke einzeichnen als die aus den von Wäldern umgebenen Städtchen Vermonts mit ihren Antiquitätenhändlern, Geschäften für Sport- und Campingbedarf, Eisdielen und ihrer alternden, ausschließlich weißen Bevölkerung in das bevölkerungsreiche und immer noch weiter wachsende Addis Abeba mit seinen unbefestigten Straßen und den Slums voller Blechhütten, aber man kann sich nur schwer vorstellen, wie eine solche Reise aussehen würde.
In den Zeitschriften, die British Airways, KLM, Ethiopian Airlines oder Lufthansa auf ihren Flügen verteilen, schlägt man die Weltkarte auf und verfolgt die Route über drei Seiten und mehrere Heftklammern hinweg. Man fliegt von New York nach London, Frankfurt oder Amsterdam, dann gibt es eine Zwischenlandung zum Auftanken in Kairo oder Khartum, die Namen klingen immer exotischer, das blau-rote Gewirr aus östlichen und westlichen Flugrouten dünnt aus, bis schließlich nur noch ein einziger Strich übrig bleibt, der zu einem Ziel im Zentrum eines Knäuels führt, und man folgt diesem Strich zu einer Stadt mit einem Namen, der so geheimnisvoll und verlockend klingt wie Timbuktu oder Mombasa oder Dakar oder Kinshasa: Addis Abeba.
Es ist ziemlich verrückt, ans Ende der Welt zu fliegen, um ein neues Familienmitglied in Empfang zu nehmen, ein Kind, auf das unter dem Giebel des Farmhauses daheim ein Zimmer wartet: über das Bett ist eine bunte Patchworkdecke gebreitet; auf der Kommode warten ordentlich aufgereiht neue Puppen und Stofftiere; im Schrank hängen neue Jeans und Pullover, die möglicherweise gar nicht die richtige Größe haben.
Auf dem nächtlichen Transatlantikflug saß Rob Cohen, Professor für Englisch und amerikanische Literatur am Middlebury College, Romancier, Autor des von der Kritik hochgelobten Romans Inspired Sleep , 47 Jahre alt, schlaksig und mit lockigen Haaren, zurückgelehnt in seinem Sitz. Er betrachtete in dem kalten ovalen Fenster sein Spiegelbild: das schmale, von einem Krausbart umrahmte, klassisch geschnittene, jüdisch melancholische Gesicht. Neben ihm schlief seine Frau, Claudia Cooper, Leiterin des Lehrerausbildungsprogramms und Gastdozentin für englische und amerikanische Literatur in Middlebury, blond und hellhäutig, ebenfalls siebenundvierzig Jahre, Mutter von zwei Söhnen (Nick Rogerson, 19, und Eli Cohen, 14).
Das Flugzeug wurde hin und her geschüttelt, als es über dem Nordatlantik durch Gewitterwolken flog. In der Kabine gingen die Leselampen aus. Unter ihnen war nichts außer pechschwarzer Finsternis, das Reich von Schiffen, Meeresströmungen, U-Booten, Tiefseegräben, Fischen.
Rob machte es nichts aus, mit einer solch großen Kraft durch die Luft davongetragen zu werden, mit einer solch unglaublichen Geschwindigkeit; die ganze Adoption hatte etwas davon gehabt, es war wie eine Beschleunigung von Kräften, ein Dahinrasen und Abheben, ein so plötzliches Emporsteigen, dass einem beinahe das Herz stehen blieb.
Zuerst war Claudia in Äthiopien gewesen. Im November 2003 war sie ihm Rahmen eines kleineren medizinischen Projekts nach Addis Abeba gekommen, weil sie hoffte, dass ihre Kenntnisse über Erziehung, Lehrerausbildung und Wissensvermittlung anderen nützen könnten.
Auf ihrem ersten Flug über Nordamerika und anschließend über Europa hinaus hatte sie ihr Tagebuch genommen und einen ausführlichen Eintrag gemacht. Erwarteten sie nach der Landung das komplette Chaos? Würden sie Scharen ungewaschener, verzweifelter, schwer geschädigter Kinder begegnen? Würde
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