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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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kürzlich, dass durch Unterernährung die Entwicklung von weltweit mehr als 100 Millionen armen Kindern gehemmt ist. Susan Bennett-Armistead wusste besser als die meisten anderen künftigen Eltern über die Probleme Bescheid, die Unterernährung nach sich ziehen konnte.
    Aber sie hatte es schrecklich gefunden, als die künftigen Eltern im Verlauf des Adoptionsverfahrens gefragt wurden, welche medizinischen Probleme bei einem Kind für sie inakzeptabel waren und welche nicht. Jedes Mal, wenn sie auf dem Fragebogen Nein ankreuzte, dachte sie voll Zuneigung an einen ihrer eigenen Schüler. Als sie beim Down-Syndrom Nein ankreuzte, musste sie an das besonders liebe kleine Gesicht eines ihrer Schützlinge denken. Außerdem entbehrten diese Fragebogen jeglicher Differenzierung. Sie wusste, dass »Lippenspalte, Gaumenspalte« in Amerika verhältnismäßig leicht zu behebende, medizinische Probleme darstellten; sie wusste auch, dass Kinder, die mit solchen Fehlbildungen auf die Welt kommen, in vielen Kulturen ausgegrenzt werden, wodurch sie der Gefahr ausgesetzt sind, in ihrer Entwicklung zurückzubleiben und psychische Schäden davonzutragen, zu deren Behebung mehr nötig ist als eine Schönheitsoperation.
    »Machen wir uns nicht verrückt«, sagte Dave. »Es gibt auch bei leiblichen Kindern jede Menge Unwägbarkeiten.«
    Und Susan pflichtete ihm abschließend bei: »Wir sollten uns allerdings darauf einstellen, dass er irgendeine kognitive Beeinträchtigung hat.«
    Das Paar sagte ja zu dem Vorschlag von AFAA, Ababu zu adoptieren, ohne jemals ein Bild von ihm gesehen zu haben.
     
    Ababu war starr vor Angst, als er von einem Mitarbeiter von AFAA am 14. März 2005 auf dem Washingtoner Flughafen aus dem Flugzeug getragen wurde. Die Familie Bennett-Armistead hatte sich ins Auto gesetzt und fröhlich singend in neun Stunden die 900 Kilometer nach Washington zurückgelegt, um ihn abzuholen, sie konnten es alle kaum erwarten, das neue Familienmitglied zu begrüßen.
    »Mit diesen riesigen runden Augen sieht er aus wie eine kleine Eule«, sagte Dave.
    Die Kinder fanden dagegen, dass er mit seinem riesigen Kopf und dem spindeldürren Körper aussah wie E.T. Er lief auch wie E.T., als er auf unterentwickelten Beinchen über den Teppichboden des Flughafens schwankte und torkelte.
    Auf der langen Fahrt nach Hause mussten sie mit ansehen, wie der winzige stumme Ababu, angeschnallt auf seinem Kindersitz, die ganze Zeit aus dem Fenster starrte und weinte. Er gab keinen Laut von sich, aber aus seinen traurigen Augen quollen unablässig Tränen. Wenn jemand ihm ein Spielzeug oder etwas zu essen hinhielt, zuckte er erschrocken zusammen, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, und sein stilles Weinen wurde heftiger. Sie fuhren mit ihm durch all die merkwürdigen Städte und Landschaften und wussten, dass er sich in dieser Welt völlig verloren vorkommen musste. Der anfangs lustige Ausflug bekam etwas Melancholisches.
    Mehr als ein Familienmitglied begann sich auf den endlosen Highways von Pennsylvania und Ohio zu fragen: »Was haben wir bloß getan?«
    Es waren eigentlich zwei Fragen: »Was haben wir ihm angetan?« und »Was haben wir uns angetan?«
     
    »Er benimmt sich wie ein eineinhalbjähriges Kind«, sagte Dave ein paar Tage später zu Susan. »Gut, dann ist er also zweieinhalb und benimmt sich wie eineinhalb, aber das ist doch nicht schlimm, oder? Daran kann man was ändern. Das werden wir schnell aufgeholt haben.«
    Sie machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte nichts.
    Dave hatte sich von der Schule sechs Wochen Elternurlaub geben lassen, als Ababu zu ihnen kam; er würde in den letzten sechs Wochen vor Ferienbeginn den Unterricht wieder aufnehmen und dann den Rest des Sommers bei den Kindern zu Hause verbringen. Doch an diesem ersten Montagmorgen änderte sich sein Leben, aus dem beliebten Geschichtslehrer wurde ein Vollzeitvater. Er hatte vorgehabt, sich in seiner freien Zeit (wie schwierig konnte es schon sein, auf einen kleinen Jungen aufzupassen, verglichen mit den vielen Stunden, die er mit dreißig Halbwüchsigen in einem Klassenzimmer verbrachte?) intensiv seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen, neue Stundenpläne aufzustellen und viel zu lesen. Aber der verstörte, kahlköpfige, hysterische Junge belegte ihn völlig mit Beschlag.
    Nach der ersten Woche in Amerika erkannte Ababu in seiner neuen Umgebung - dieser außerplanetarischen Landschaft mit Feldern, gepflasterten Straßen, großen, hell erleuchteten Geschäften

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