Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
Vom Netzwerk:
und Yabsira trödelte herum. Ich habe zu ihm gesagt: ›Yabbie, mach dich an die Arbeit! ‹, und kurz darauf höre ich ihn ›Mekdes!‹ schreien. Und Mekdes kam angelaufen und hat sein Zimmer für ihn aufgeräumt.«
    Schließlich, ungefähr zwei Monate nach der Ankunft der Kinder, belauschten Mikki und Ryan eine neue Art der Auseinandersetzung zwischen den beiden. Yabsira war in Mekdes’ Zimmer gekommen, um sich irgendetwas von ihren Sachen zu holen; sie sagte ihm, er solle rausgehen; er weigerte sich.
    »Nein, Yabsira«, rief sie. »Das ist meins, und du gehst jetzt raus aus meinem Zimmer!« Gleich darauf schlug eine Tür zu.
    »Ich glaube«, sagte Ryan, »sie hat keine Lust mehr, seine Mutter zu sein.«
    Aber noch immer stand Mekdes Yabsira zuliebe nachts auf. Er wollte, dass sie wegen der Hyänen Wache stand, wenn er aufs Klo ging. In Addis Abeba gibt es keine Hyänen, aber außerhalb der Städte streifen sie herum, und die Lieder und Geschichten über sie machen den Kindern Angst. Jede Nacht stand Mekdes gähnend im dunklen Flur vor dem Badezimmer und beschützte ihren Bruder vor den Hyänen von Snellville.
    Eines Tages entdeckte Mikki sie dort und bot ihr an, an ihrer Stelle Wache zu stehen. Als Mekdes sich einverstanden erklärte und zurück ins Bett ging, wurde Mikki bewusst, dass Mekdes inzwischen darauf vertraute, dass ihre neuen Eltern auf Yabsira aufpassten.
    Der kleine Junge legte seine Ungezogenheit langsam ab und begann allmählich zu glauben, was alle ihm sagten: dass es in Amerika keine Hyänen gab. Dann kam Mekdes Tanzauftritt und mit ihm die schlechte Nachricht. In dem Lied hieß es warnend: »Grab ein Loch, bevor die Hyäne kommt.« Bevor die Tänzerinnen auch nur zwei Steppschritte machen konnten, war Yabsira abgetaucht.
     
    Mekdes hält die Erinnerung an ihre ersten Eltern lebendig und trichtert ihrem Bruder die Familiengeschichte ein.
    »Wer war unsere Mutter?«, fragt sie.
    »Mulu!«, ruft sie, wenn er nicht schnell nicht genug antwortet.
    »Wie hieß unser Vater?«
    »Asnake«, sagt Yabsira.
    »Gut«, sagt Mekdes.
    Während sie noch in dem Apartment in Addis Abeba waren, zeichnete Mekdes sechs Strichmännchen und gab ihnen Namen: Mekdes, Yabsira, Mommy, Daddy, Mulu, Asnake. Sie bat ihre Eltern, die Zeichnung an die Schlafzimmerwand zu hängen.
    »Mommy, bist du aus Grannys Bauch gekommen oder aus Äthiopien?«, fragte sie eines Tages.
    An einem anderen Tag begann sie eine Geschichte zu erzählen und verbesserte sich mittendrin: »Da war ich bei meiner Mo-, ich meine Mulu.«
    »Schätzchen, du kannst ruhig Momma sagen«, erklärte Mikki.
    »Magst du Mulu, Mommy?«
    »Ich mag Mulu sehr«, sagte Mikki, und Mekdes umarmte sie.
    Schon bald erzählte Mekdes ihrer Mutter von dem Tag, an dem ihre Tanten sie zu Haregewoin gebracht hatten. »Yabsira weint ein bisschen. Ich geschrien.«
    »Warum hast du geschrien, Schätzchen?«, fragte Mikki.
    »Ich kenne das Äthiopien nicht. Ich will mein Äthiopien mit Goshay und Fasika. Ich will nicht neues Äthiopien.«
    »Du warst traurig«, sagte Mikki.
    »Keine Hoffnung, Mommy. Ich habe keine Hoffnung.«
    »Ach, Schätzchen...«
    »Weil es mir keiner gesagt hat, Mommy.«
    »Dir was gesagt hat?«
    »Dass du hier in Amerika bist. Ich bin nicht so traurig, wenn ich weiß, dass du hier bist.«
    »Ja, ich habe hier alles vorbereitet, ich habe eure Zimmer hergerichtet. Ich war hier, ich und dein Daddy, wir haben gewartet und alles fertiggemacht.«
    »Ich weine, weil ich nicht weiß, dass ihr kommt.«
    Für die meisten der zehn Millionen, 15 Millionen, 20 Millionen afrikanischen Waisen richtet niemand ein Zimmer her. Zu ihnen kommt niemand.

53
    In einem verwitterten Farmhaus aus dem 1880er-Jahren im ländlichen Michigan springt ein kleiner Junge in Socken auf einem durchgesessenen Sofa auf und ab. Auf seinem Gesicht liegt ein breites, zahnloses Lachen (seine oberen vorderen Zähne waren kaputt und mussten gezogen werden). Der Junge ist so groß wie ein Dreijähriger, und er sieht aus und benimmt sich wie ein Dreijähriger, und jeder Außenstehende hält ihn auch für drei Jahre. Aber er ist wahrscheinlich fünf Jahre oder älter. Die Frage, wie alt er ist, interessiert ihn allerdings nicht im Geringsten.
    Die winterlichen Felder, die durch die schmutzigen Sturmfenster zu sehen sind, wirken beinahe farblos: das leuchtende Grün des Sommers und das schimmernde Gold von Heu, Mais und Soja sind zu einem matten Graubraun verblichen, und der Altschnee in den Gräben

Weitere Kostenlose Bücher