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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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und seltsam aussehenden und komisch sprechenden weißen Leuten - nur Dave. Mit Dave verband er essen, trinken, Wärme, trockene Kleidung, drinnen und draußen. Auf Daves Arm trank er seinen Becher Milch (die Laktoseintoleranz war verschwunden), er wurde von einem Zimmer ins andere getragen und auf ein Handtuch gelegt, wenn es Zeit zum Windelwechseln war, er wurde in warmem Wasser gebadet und durfte mit Spielsachen herumplanschen, so lange er wollte. Sein alles auf den Kopf stellender Sturz durch Zeit und Raum, über den Atlantischen Ozean und Zeitzonen und Kontinente und verschiedene Völker hinweg, wurde von Dave Armistead aufgefangen, und Ababu hatte nicht die Absicht, ihn wieder loszulassen.
    Eines der ersten Wörter, die er von sich gab, war ein Name für Dave: Abada , ein selbst erfundenes Wort, eine Mischung aus dem amharischen abat und dem amerikanischen daddy .(Er hatte nie einen Vater gehabt und in Addis Abeba überhaupt nur wenige erwachsene Männer gekannt.)
    Jeden Morgen streckte er die Arme nach Dave aus und ließ ihn nur widerstrebend und kläglich wimmernd zwölf Stunden später wieder los, wenn Dave ihn ins Bett brachte. Und dann wollte Ababu, dass Dave bei ihm sitzen blieb, bis er eingeschlafen war.
    »Er ist eher wie ein Säugling«, sagte Dave abends zu Susan. »Wenn ich versuche, ihn abzusetzen, dreht er völlig durch.«
    »Ich bin fix und fertig«, sagte Dave nach der zweiten Woche zu Hause. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Er wiegt dreißig Pfund. Er hängt von früh bis spät an mir dran.«
    »Er ist kräftig und drahtig, er ist bestimmt nicht schwach«, sagte Dave an einem anderen Abend. »Heute Nachmittag hat er im Esszimmer einen Wutanfall bekommen, und als ich versucht habe, ihn hochzuheben, hat er sich an dem schweren Holzstuhl festgehalten und ihn quer durchs Zimmer gezerrt.«
    Der Verdacht, dass der bedürftige, winzige Junge, der wieder Windeln tragen musste, nicht zweieinhalb, sondern fünf Jahre alt war oder sogar fünfeinhalb wie die wohlerzogene und altkluge Violet, jagte ihnen einen Schrecken ein.
    »Ababu isoliert Wörter in einem Satz nach ihrer Bedeutung«, sagte Susan eines Tages. Er sagte jetzt Dinge wie »Komm her«, und »Auf« und »Schau mal«.
    »Das ist gut, oder?«, fragte Dave.
    »Ja, das ist gut, aber... so etwas macht ein zweijähriges Kind nicht. So etwas macht ein älteres Kind, das eine zweite Sprache lernt. Er verwechselt ›AbabuwillstdueinGlasMilch?‹ nicht mit irgendwelchen unzusammenhängenden Silben oder einem einzelnen Wort. Er dreht es schnell herum, um zu sagen ›Will Milch‹. Er begreift, wozu Wörter da sind, dass Dinge Namen haben, dass eine Reihe von Lauten, die aus dem Mund von jemandem kommen, eine bestimmte Bedeutung haben.«
    »Was heißt das?«, fragte Dave.
    »Das heißt, dass das nicht die erste Sprache ist, die er lernt. Es heißt, dass er genug von einer ersten Sprache mitbekommen hat, um die Grundregeln von Sprache zu begreifen. Es heißt, dass er kein Zweijähriger ist, der zum ersten Mal versucht, sprechen zu lernen.«
     
    In diesem ersten Monat fuhr die Familie an einem Abend zum Konzert eines Kinderorchesters nach Ann Arbor.
    »Sieh dir Ababu an«, flüsterte Susan Dave zu. Ababu saß zwischen ihnen.
    »Er genießt die Musik!«, sagte Dave. Ababu wiegte sich im Takt der Musik hin und her und klatschte.
    »Schau mal, wie er klatscht!«
    »Was meinst du?«
    »Er synkopiert«, sagte Susan. Beim Synkopieren findet eine rhythmische Verschiebung des Akzents statt, das heißt, Ababu klatschte beim unbetonten Takt.
    »Das ist nett«, sagte Dave.
    »Ein Zweijähriger kann das nicht. Man muss fünf sein, um das zu können.«
    Sie beobachteten ihn. »Ich glaube nicht, dass wir hier einen Zweieinhalbjährigen vor uns haben«, sagte Susan.
    Obwohl der Frühling in Michigan für gewöhnlich das Ende der Stubenhockerei bedeutet, fing sie für Dave gerade erst an. Er kam sich in seinem eigenen Haus wie ein Gefangener vor, ein Gefangener des fordernden, jähzornigen, wie eine Klette an ihm hängenden Jungen.
    Er versuchte Susans Rat »Abwarten und Tee trinken« zu befolgen, aber in den endlosen Stunden, die er jeden Tag damit zubrachte, mit Ababu auf dem Arm oder auf dem Rücken die immer gleichen Wege in dem engen Haus zurückzulegen, fragte er sich unwillkürlich: »Wie schlimm ist seine kognitive Beeinträchtigung? Besteht daneben eine geistige Behinderung? Ist er autistisch? Haben wir ein Kind mit einer Störung aus dem autistischen

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