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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Formenkreis adoptiert?«
    Eines Tages ließ Dave ihn ein paar Stunden lang in der Obhut von Violets früherer Tagesmutter, aber Ababu fing an zu toben; er geriet vor Angst und Kummer völlig außer sich; er ließ sich nicht in den Arm nehmen oder trösten; er bekam Durchfall, aber er wehrte jeden ab, der ihm die Windel hätte wechseln können. Er schrie drei Stunden lang, bis er heiser war, wälzte sich zwischendurch auf dem Boden, und verpestete das kleine farbenfrohe Zimmer mit den aufgemalten Kinderreimen an den gelben Wänden mit dem Gestank seiner vollen Windel, bis Dave wiederkam. Ababu rannte durchs Zimmer und warf sich in Daves Arme, und Dave spürte sogar durch seine Daunenjacke hindurch, wie heftig Ababus Herz schlug. Es dauerte einige Stunden, bis Ababu sich wieder beruhigt hatte und wieder normal atmete. Es war ein Rückschritt in ihrer Beziehung, danach konnte Ababu nicht am Esszimmertisch sitzen bleiben, wenn Dave in die Küche ging, um eine Schüssel Nudeln in die Mikrowelle zu schieben; Ababu musste mitgehen. Tagelang sah er Dave mit vorwurfsvollen Augen an.
    »Wie zurückgeblieben ist er wirklich?«, fragte Dave Susan und hatte dabei selbst einen vorwurfsvollen Blick.
    »Das ist schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, wie alt er ist. Auf der Geburtsurkunde, die wir bekommen haben, steht 30. Mai 2002, aber das ist schlicht nicht möglich. Und für die meisten kognitiven Tests ist es notwendig, dass ich mit dem Kind spreche, aber er kann nicht sprechen. Hat er wenigstens Amharisch gesprochen?«
    »Weißt du, er steht den ganzen Tag da und steckt die Hände in die Windel, in die volle Windel«, berichtete Dave eines Abends. »Der Gestank wirft dich um, und er schmiert sich von oben bis unten damit voll, seine Hände, seine Kleidung. Heute musste ich ihn dreimal baden.«
    An einem anderen Abend sagte er: »Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit ihm.«
    »Das lässt sich noch nicht sagen«, erwiderte Susan.
    Aber Dave wurde langsam depressiv. Durch welchen Ausrutscher eines Stifts auf irgendeinem Formular, durch welche merkwürdige Laune des Schicksals war dieser Waisenjunge aus Addis Abeba in Dave Armisteads Küche gelandet? Ich unterrichte gern, dachte er, wenn er im Haus oder im Garten herumging und Ababu im Klammergriff an seinem Hals hing. Ich liebe Geschichte, ich liebe es, an der Highschool Geschichte zu unterrichten. Und das habe ich alles hierfür eingetauscht?
    Dave ließ sich nachts ins Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kissen. Die Familie nahm sich selbst in eine Art Isolationshaft. Sie hielten Freunde und Verwandte auf Distanz. Ababu war zu unberechenbar und zu verstört, so dass sie das Risiko nicht eingehen wollten, ihn weiteren Reizen auszusetzen. Susan versuchte abends eine fröhliche Unterhaltung in Gang zu bringen, als sei alles ganz normal, aber es war nichts mehr normal. Sie kämpften ums Überleben.
    Daves große Familie machte es offenbar nichts aus, sich fernzuhalten. Die Adoption eines Kindes aus Afrika war ihnen von vornherein als unvernünftige Idee erschienen. Einige von Daves Verwandten beklagten sich, sie könnten Ababu nicht einmal richtig aussprechen.
    Eines Abends hörte Susan, wie Dave am Telefon aufgebracht zu seiner Mutter sagte: »Kannst du Banane sagen? Das ist nicht viel anders. Wo liegt das Problem?«
    In der Literatur zum Thema Adoption findet man häufig die Metapher, dass sich ein Familiengefüge mit einem Mobile vergleichen lässt. Wenn man einem solchen empfindlichen schwebenden Kunstwerk ein zusätzliches Element hinzugefügt, muss man alle anderen Teile neu ausrichten. Schon ein neugeborenes Kind (sei es ein eigenes oder ein adoptiertes) verschiebt das Gleichgewicht in einer Familie. Ein älteres Kind aus einem fremden Land, das vielleicht Verlust und Trauma erlebt hat, wirkt noch stärker auf die metaphorischen Fäden und Drähte ein. Es kann lange dauern, bis das Familienmobile seine frühere Leichtigkeit und sein Gleichgewicht wiederfindet.
    Solange alles noch verwirrend und chaotisch ist, kann der Eindruck entstehen, die Adoption sei ein Fehler gewesen, die Familie würde sich nicht davon erholen. Susan und Dave fragten sich im Stillen: Was haben wir uns bloß dabei gedacht?, aber keiner von beiden ging so weit, laut zum anderen zu sagen: »Es war ein Fehler.« Susan verbot sich eine negative professionelle Einschätzung von Ababu; im Moment musste sie Mutter und Ehefrau sein, keine Expertin für kindliche Entwicklung. Und Dave war froh, dass

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