'Alle meine Kinder'
Simianen Immunovirus abstammen?« 50
Die Theorie des gesellschaftlichen Umbruchs wiederum stützt sich auf die Annahme, dass es sich bei HIV um eine Zoonose handelt: Sie erklärt das Mitte des Jahrhunderts von Zentralafrika ausgehende, epidemische Auftreten der Krankheit mit den Bevölkerungswanderungen während der Unabhängigkeitskämpfe in den 1950er- und 1960er-Jahren. »Dieser Hypothese zufolge«, berichtet der Journalist William Carlsen vom San Francisco Chronicle, »trat die Epidemie auf, als Straßen durch den Regenwald geschlagen wurden und die strengen Reisebeschränkungen der Kolonialzeit gelockert wurden. Dadurch strömten die Träger von HIV, die sich bei Affen infiziert hatten und bislang in geschlossenen ländlichen Gemeinschaften lebten, in die Städte, wo sie das Virus infolge freizügigerer Sexualpraktiken verbreiteten.«
Die Theorie des gesellschaftlichen Umbruchs lässt jedoch eine Frage außer Acht: Warum gerade jetzt? Zwischen 1450 und 1850 wurden mindestens zwölf Millionen Afrikaner - vielleicht sogar doppelt so viele - in die Gefangenschaft gezwungen und als Sklaven auf der berüchtigten »Middle Passage« über den Atlantik in Kolonien in Nordamerika und Südamerika und in der Karibik gebracht. Die Leute wurden aus Regionen in Westzentralafrika verschleppt, die der Lebensraum der fraglichen Affen und Schimpansen waren und in denen die Seuche heute am schlimmsten wütet. Warum kam es zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert zu keiner Aids-Epidemie, ausgelöst durch versklavte Afrikaner?
Die Umbruchstheorie führt zu der Behauptung, dass vor 50 oder 60 Jahren etwas Neues passiert sein muss, das das Gleichgewicht zwischen gutartigen Simianen Viren, ihren tierischen Wirten und ihren vereinzelten menschlichen Wirten durcheinandergebracht hat.
Theorien zu einem iatrogenen Ursprung gehen der Frage nach, ob Aids infolge medizinischer Behandlungen oder Experimente versehentlich verbreitet wurde.
»Meine Damen und Herren, Bürger dieser Stadt. Ich habe eine Ankündigung zu machen. Aids ist eine vom Menschen geschaffene Krankheit.« Mit diesen Worten begann ein Artikel des früheren BBC-Radioreporters Edward Hooper. Er erschien unter der Überschrift »Die Geschichte einer vom Menschen geschaffenen Krankheit« 2003 im London Review of Books . »Mittlerweile steht mehr oder weniger fest, dass die Aids-Pandemie, die mittlerweile die schlimmste ansteckende Seuche ist, die die Welt jemals gesehen hat, durch Menschenhand (insbesondere die von Ärzten und Wissenschaftlern) ausgelöst wurde.« 51
In seinem Buch The River: A Journey to the Source of HIV and AIDS , das vier Jahre zuvor erschienen war, führte Hooper aus, dass HIV bis zur Entwicklung und Erprobung einer Schluckimpfung gegen Kinderlähmung zurückverfolgt werden kann, die in den späten 1950er-Jahren Hunderttausenden von Menschen in Belgisch-Kongo verabreicht wurde.
Ein aus Polen emigrierter Wissenschaftler, Hilary Koprowsky vom Wistar Institute in Philadelphia, lieferte sich mit Jonas Salk und Albert Sabin ein Wettrennen bei der Entwicklung eines besseren Impfstoffs gegen Kinderlähmung. Das Wistar Institute entwickelte den Impfstoff aus Nierenzellen von Affen und Schimpansen, die aus Afrika und Asien stammten. In den zentralafrikanischen Dörfern, in denen der Wistar-Impfstoff zwischen 1957 und 1960 getestet wurde, kam es später zu den ersten schrecklichen HIV/Aids-Epidemien.
Waren die Affen und Schimpansen, in deren Nierenzellen der Wistar-Impfstoff entwickelt worden war, Träger des SIV gewesen?
Führte die Impfkampagne gegen Kinderlähmung gleichzeitig dazu, dass Tausende von Menschen mit HIV infiziert wurden?
Vom Wistar Institute hinzugezogene Experten widersprachen dieser Theorie. Es sei unwahrscheinlich, dass irgendwelche SIV-Partikel das Verfahren zur Impfstoffgewinnung aus den Geweben überlebt haben könnten, behaupteten sie; aber auf jeden Fall hätten die geringen SIV-Konzentrationen, die es überdauert haben könnten, nicht ausgereicht, um die Krankheit zu übertragen. Außerdem sei eine Verbreitung der Krankheit durch die Übertragung von SIV-Partikeln bei einer Schluckimpfung sehr viel unwahrscheinlicher als bei einer direkten Übertragung dieser Partikel in den Blutkreislauf. Und übrig gebliebene Ampullen mit dem Impfstoff wiesen keine SIV-Spuren auf. Außerdem, so brachte Wistar zu guter Letzt vor, sei derselbe Impfstoff, den man im Kongo getestet hatte, auch in Polen und in den Vereinigten Staaten
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